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Dienstag, 03.12.2002



Dr. Mohammad Mojtahed Shabestari: schrieb:


Demokratie und Religiosität von Dr. Mohammad Mojtahed Shabestari

1 Die Frage, ob der Mensch bei der Gesetzgebung den Gottesgesetzen und -werten folgen soll oder nicht, betrifft die Zielsetzung der Gesetzgebung und der Moral und nicht die der Art und der Form der Regierung. Die Demokratie übernimmt nicht die Aufgaben von Rechts- oder Moralphilosophie. Daher kann auch von Ihr keine Antwort auf die oben gestellte Frage abgeleitet werden, auch kein Widerspruch zur Priorität des Willens Gottes über den Willen des Menschen. Sie stellt in der Gegenwart eine Form und Methode des Regierens dar, welche den diktatorischen Regierungsformen diametral entgegen steht.

Es ist diese Regierungsform, die den modernen Gesellschaften mit ihren verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und deren unterschiedlichen politischen, sozialen und kulturellen Interessen ermöglicht, ihre Regierenden zu wählen, ihre Arbeit zu kontrollieren, sie zur Verantwortung zu ziehen und mit ihrer permanenten Beteiligung am politischen Leben, sich die Möglichkeit vorzubehalten, die Machthaber auf friedlichem Wege zu wechseln. Die Demokratie ist die Regierungsform, in der die Bevölkerung ihre Belange möglichst weit selbst bestimmt.

Was die Demokratie von den übrigen Regierungsformen unterscheidet, ist, dass sie die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen weder entmachten kann noch will. Die Garantie hierfür liegt darin, dass die Regierung verpflichtet ist, sich an gesetzliche Bestimmungen zu halten, die der Wahrung von Organi-sationsfreiheit und der feien Meinungsäußerung dienen. Die Aufrechterhaltung der Demokratie hängt vom Bestehen von Organisationen verschiedenster Richtungen ab. In den demokratischen Gesellschaften stehen die Medien allen gesellschaftlichen und politischen Gruppen offen, abgesehen davon, ob sie für oder gegen die Regierung sind. In einer demokratischen Gesellschaft hat weder die Mehrheit noch die Minderheit die Macht. Die Regierung ist daran gebunden, die Interessen und das Wohl aller gesellschaftlicher Gruppen zu gewährleisten.

Die Demokratie passt sich in verschiedenen Ländern den jeweiligen Sitten und Bräuchen, der Kultur und Philosophie der dort lebenden Völkern an. Sie versucht sie nicht zu ändern oder gar ihnen bestimmte Traditionen aufzu-zwingen. In dieser Hinsicht steht sie im Gegensatz zu allen diktatorischen Regierungen.

In Gesellschaften, die demokratisch regiert werden, wird der gesellschaftliche Zusammenhalt durch den gegenseitigen Respekt unterschiedlicher Meinun-gen, Richtungen und Interessen gewährleistet und nicht durch ihre Überein-kunft auf eine der bestehenden Meinungen und Interessen.(...)

2 Der demokratische Staat hat die Grundsätze der Freiheit und der Gleichheit aller Menschen akzeptiert, ohne dass auch eine Person davon ausgenommen wird. Er bevorzugt keine Weltanschauung, Ideologie oder Religion und diskriminiert keine. Aber dies nicht deshalb, weil die Regierenden oder die Regierten jeweils keine eigenen Positionen dazu hätten, sondern weil die Aufgabe des Staates nicht darin besteht, sich in diese Fragen einzumischen. Sich mit diesen Themen auseinander zu setzen ist die Angelegenheit von Philosophen und nicht von Regierenden. Die Einmischung der Regierenden in diese Fragen lässt nur Feindschaft und Diktatur entstehen. Die o.g. Prinzipien dienen in einem demokratischen Staat nur der Regelung von Verhältnissen unter den Menschen und nicht dazu, sie im Jenseits gleichzustellen.(...)

Daher genießen in einem demokratischen System die Angehörigen aller Weltanschauungen und Religionen ein Existenzrecht und können sich frei entfalten und haben das Recht, nach ihren eigenen Regeln zu leben. Heut-zutage leben Millionen von Menschen, die an die Rechtleitung nur ihrer eigenen Religion glauben, unter demokratischen Verhältnissen, ohne dass ihr Glaube sie daran hindern würde, mit den Angehörigen anderer Religionen friedlich zusammen zu leben. Die Demokratie ist eine Lebensart für das Diesseits und kein Urteilskriterium für das Jenseits.

Es stimmt, dass die Gesetzgebung in einem solchen Staat Meinungen und Stimmen aus der Bevölkerung Folge leisten muss. Jedoch nicht deshalb, weil der Wille des Menschen über Gottes Willen stehen würde. Eine solche Kausalität, die in der Sache eine philosophische ist, kann überhaupt nicht Anliegen der Gesetzgebung in einem demokratischem System sein. Ihr einziges Anliegen besteht darin, dass das Gesetz den Interessen der Bevölkerung nicht widerspricht. Wenn nun der Wille der Bevölkerung darin bestehen würde, Gottesgesetze zu befolgen, würden die Gesetzgeber im Einklang mit der Bevölkerung dies nachvollziehen. Zweifelsohne wird die Gesetzgebung in einem demokratischen System auf zwei Grundsätze Rücksicht nehmen: Der erste Grundsatz besteht darin, dass die Gesetze zu keinem Vorteil für eine Gruppe oder Klasse gegen andere Gruppen oder Klassen, für ein Geschlecht gegen das andere Geschlecht, für eine Rasse gegen andere Rassen und dgl. führt oder dies bestärkt. Und der zweite Grundsatz besteht darin, dass die Gesetze dem Wohlbefinden und dem Wohlstand aller dienen und nicht der Mehrheit oder gar einer bestimmten Gruppe.(...) Die Gesetzgebung in einem demokratischen Staat wird von der Mehrheit der Bevölkerung gewählt und ist gebunden an die erwähnten Grundsätzen.

An dieser Stelle stellt sich für uns die Frage ernsthaft, wenn die Bevölkerung in einer moslemischen Gesellschaft Gottesgesetze befürwortet, in welcher Richtung wird denn ihr Wille in der Regel und tatsächlich ausgerichtet sein? Wird es nicht so sein, dass die Menschen von ihren Regierenden verlangen werden, sich an Gottesgesetze zu halten? Und wird denn den von diesen Menschen in einem demokratischen System gewählten Gesetzgebern etwas anderes übrig bleiben, als den Willen dieser Menschen Folge zu leisten? Wird am Ende das Resultat etwas anderes sein, als die Rücksichtnahme auf Gottesgesetze?(...)

Die Behauptung ,dass, wenn Muslime eine demokratische Regierung bilden, Gottesgesetz liegen gelassen und Menschenwillen dem Willen Gottes vorgezogen würde, ist unbegründet und logisch nicht nachvollziehbar.

3 Die Gegner der Demokratie stellen die Frage, welche der beiden sollte man annehmen, wenn Volkes Stimme in Widerspruch zum Gottesgesetz stehen würde? Die Antwort darauf ist zweierlei: Zum ersten ist jedem Muslim aus der Glaubenslehre auferlegt, das unumstrittene Gottesgesetz seiner eigenen Meinung vorzuziehen. Nimmt man zum zweiten an, dass die Bevölkerung Irans, die in der überwältigenden Mehrheit Muslime sind, bei ihrer Gesetz-gebung tatsächlich die Gottesgesetze nicht beachten würden und ihre gemeinschaftliche Verweigerung trotz besseren Wissens bestehen würde, dann hätten die Leute in diesem oder jenem Teilbereich ihre islamische Identität verändert und könnte leider niemand dem etwas entgegensetzen. Dann würde auch kein Reden über Gottesgesetze bei ihnen etwas bewirken.-(...) Eine Verbindung zwischen einer solchen hypothetischen Wahrschein-lichkeit und der Demokratie herzustellen und die Bekämpfung der Demokratie daraus zu legitimieren, entbehrt jeder logischen Grundlage. Manche Verhal-tensformen und Erscheinungen legaler Freiheiten im Westen, die im Gegen-satz zu Gottes Verboten stehen und manchmal den Widersachern der Demokratie bei uns als Argument dienen, stehen mit der Demokratie als Regierungsform und -methode in keiner Beziehung. Sie sind bedingt durch dortige kulturelle Entwicklungen. Allerdings ist es möglich, dass in einer moslemischen Gesellschaft sich Personen oder Gruppen finden, die, aus welchem Grunde auch immer, sich gegen Gottesgesetze aussprechen und engagieren. Dies wird jedoch nicht bewirken, dass unumstrittene Gottes-gesetze ungebräuchlich werden. Diese Meinungen werden wie auch jede andere Meinung in einer demokratischen Gesellschaft mit anderen Meinungen und Praktiken, die sie ablehnen, d.h. mit denen der Meinungsführer der moslemischen Mehrheit kollidieren und es besteht kein Zweifel, dass sich praktizierende Muslime dafür einsetzen werden, dass gesetzliche Kriterien eben Gottesgesetzen entsprechen.

Die entscheidende Frage besteht jedoch hier darin, wie sich der Einsatz für die Einhaltung von Gottesgesetzen gestaltet, gebunden an die demokrati-schen Spielregeln oder unter Verwendung von Zwangsmethoden und Unterdrückung? Diese entscheidende Frage darf nicht leichtfertig beiseite geschoben werden. Denn die Wurzel vieler bestehender Probleme, gerade in unserer Gesellschaft, steckt in dieser Frage. Auch wir sind davon überzeugt, dass jeder Muslim, der der Meinung ist, die unumstrittenen Gottesgesetze zu kennen, auch verpflichtet ist, sie zu praktizieren und sich dafür einzusetzen, dass auch andere sich daran halten. Wir sind aber auch davon fest überzeugt, dass dieser Einsatz in komplexen Gesellschaften, wo viele Überzeugungen, Kulturen und politische Richtungen nebeneinander existieren - wozu auch unsere Gesellschaft gehört - nichts anderes sein kann, als ein zwangsfreier Einsatz, frei von ideologischen Manipulationen und bar jeder Gewalt und Unterdrückung. Denn sonst wäre der Verlust von Werten, religiösen Bindungen und Gottesgesetzen die Folge. Dies wäre nicht zum Wohle der Allgemeinheit.

Wenn eines Tages die religiösen Meinungsführer unserer Gesellschaft sich nicht in der Lage sähen, sich in der intellektuellen Auseinandersetzung mit demokratischen Mitteln und auf friedlichem Wege für die Rechtleitung der Bevölkerung einzusetzen, so dass sie und die Gesetzgeber den göttlichen Werten und Gesetzen treu blieben, und die Argumente ihrer Widersacher verwirken, dann müssen sie den Ursprung ihrer Unfähigkeit und die daraus resultierende Angst in ihrer eigenen Unzulänglichkeit und der Schwäche ihrer Argumentation suchen und nicht anderswo. Sie müssen versuchen, ihre Argumentationskraft zu verstärken und ihre eigene Unzulänglichkeit zu beseitigen. Angstmacherei, sich beunruhigt zeigen und an die Ehre und den gewaltsamen Fanatismus appellieren bringt nichts. Solche Äußerungen werden nicht nur keine Probleme lösen, sondern im Gegensatz unsere Gesellschaft in andere und fundamentale Probleme stürzen, so dass am Ende dermaßen Verwirrung entsteht, dass jeder nur an seinen eigenen Profit und sein tägliches Brot denken und sich von allen Werten trennen würde.

4 Ein weiterer Punkt betrifft die unumstrittenen Werte und Gottesgesetze, deren Verlust den Gegnern der Demokratie Angst macht. Wo kann man sie finden und wie lassen sie sich erkennen? Kann man denn angesichts philosophi-scher Überlegungen über die Interpretation von Texten und die Hermeneutik, die im 20. Jahrhundert besonders weit geführt wurden, von einem Text zu einer bestimmten Interpretation gelangen, die dann als die einzig möglich und richtige gilt? (...)

Zu keinem Text gibt es eine eindeutige Interpretation. Kein Text ist so eindeu-tig klar, dass dessen Verständnis nicht eine Art von Interpretation wäre. Der Islam ist, wie er auch dargestellt wird, eine Art der Interpretation des Buches (Koran) und der Tradition des Propheten Mohammad (Sunna). Daher kann kein Verständnis des Koran und der Sunna als außerhalb des Islam stehend bewertet werden, solange die Gesandtschaft des Propheten des Islam aner-kannt wird. Alle Auslegungen und Interpretationen des Koran und der Sunna sind stets, von wem auch immer sie durchgeführt werden, aus einem be-stimmten kulturellen und historischen Horizont heraus entstanden.

Daher muss man sich überlegen, was denn die Bedeutung des eindeutig unumstrittenen Gottesgesetzes sein kann? Wie kann man diese Eindeutigkeit verstehen? Wie viele von den unumstrittenen Gesetzen kann es geben, die für alle Zeiten Gehorsam abfordern ? Kann man nicht sagen, dass unumstrittene Gottesgesetze vielleicht nur diejenigen sind, die nicht nur von allen abraha-mischen Religionen, sondern von allen monotheistischen Religionen, betont worden sind? Und wenn ja, sind diese Werte und unumstrittene Gesetze nicht genau die, die der Mensch im Laufe seiner Geschichte fortwährend gesucht und zu deuten versucht hat? (...)

Die Gegner der Demokratie sagen: Angenommen, es gebe verschiedene Lesarten des Islam. Das iranische Volk hat diejenige Lesart akzeptiert, die im Grundgesetz des Landes widerspiegelt ist. Ich ( der Verfasser) vermerke in Analogie zu dieser Aussage, dass, wenn das iranische Volk in einer anderen Zeit eine andere Lesart des Islam akzeptieren und ihr sein Grundgesetz anpassen würde, dann könnte man ihm nichts ankreiden. Diesen Punkt anzunehmen, bedeutet einen großen theoretischen Schritt hin zur Akzeptanz der Demokratie, ganz gleich ob sich dieser Vorgang tatsächlich ereignet, oder nicht. Denn es liegt eine Lesart des Islam vor, die im Grundgesetz verankert ist. Sie ist eine neben vielen anderen möglichen und seine Lesart zu finden, ist das Recht des iranischen Volkes und das Tor zum Verständnis des Islam ist stets offen und darf nicht versperrt werden.

5 Eine Antwort verlangt auch die Frage, wer und welche Denkart von der Demokratie bekämpft wird. Die Demokratie wird, da sie eine Regierungs-methode und -form ist, weder Gottes Willen und -gesetz bekämpfen, noch deren wahrhaftigen Verkünder. Die Demokratie widersetzt sich solchen Inter-pretationen des Koran und der Sunna, deren Wortführer in Ermangelung des richtigen Verständnisses von der Freiheit und der Demokratie in der heutigen Zeit sie weitgehend missverstehen und darauf beharren, dass es nur eine einzige Interpretation des Koran und der Tradition des Propheten geben kann; diejenigen, die eingebunden in Ihre Interessen und ohne von der Realität und der komplexen Entwicklung heutiger Gesellschaften Kenntnis zu haben, den Islam derart verstehen und auslegen, dass in der Begegnung mit dem realen Leben Muslime daran hindert, ihre Religion schöpferisch zu erfahren und ihnen den Weg versperrt, ihre grundlegenden Probleme der heutigen Zeit zu lösen.(...) Sie deuten die Demokratie als antireligiös und verdammen sie und hindern dabei Muslime, sich an der politischen Mitbestimmung zu beteiligen und ebnen damit den Weg für Diktatur und Despotie. (...)

6 Des weiteren ist zu erwähnen, dass manche religiöse Gesetze den beiden fundamentalen Grundlagen der Demokratie widersprechen, nämlich der rechtlichen Gleichstellung aller Bürger und Wahrung ihrer Interessen als Ziel der Demokratie. Als Beispiel sei genannt, dass manche islamische gesetzliche Regelungen Muslime gegenüber Nichtmuslimen bevorzugen oder Männer gegenüber Frauen. Andere islamische Bestimmungen wiederum, falls sie als geltendes Gesetz angewandt werden, kommen nicht den Interessen aller Menschen zugute, sondern einer besonderen Gruppe.

Was ist in solchen Fällen zu machen? Sollen solche islamischen Gesetze, die unter bestimmten historischen Bedingungen eine bestimme Rolle gespielt haben, als sichere und ewig geltende Gottesgesetze deklariert werden und damit der Demokratie den Kampf ansagen? Sollen wir das Verständnis und die Auslegung des Korans und der Tradition des Propheten früherer islami-scher Rechtsgelehrter als die einzig mögliche und richtige annehmen und uns von den neueren Forschungen des Verständnisses und der Auslegung von Texten abwenden? (...)

Angesichts der Tatsachen, dass es in der heutigen Zeit eine politische Geg-nerschaft zwischen Muslimen und Nichtmuslimen in den islamischen Ländern nicht vorhanden ist und die dortigen Nichtmuslime die jeweiligen geltenden Gesetze achten und befolgen und mit der muslimischen Mehrheit friedlich zusammenleben, ist zu klären, ob uns unsere Religion erlaubt, sie zu benach-teiligen und als Bürger zweiter Klasse zu behandeln? Dürfen wir heute immer noch Frauen, die aus den Wohnungen herausgetreten sind und mit der An-teilnahme am politischen, sozialen und wirtschaftlichen Leben das öffentliche Leben mitgestalten, gegenüber Männern benachteiligen? Hat sich in all diesen Fällen das Objekt der Gesetzgebung nicht verändert? Muss nicht in all diesen Fällen eine neue zeit- und ortgemäße Gesetzgebung erfolgen?

Solche Einstellungen entbehren jeder Logik und können von Experten nicht verteidigt werden. Mit der Bezugnahme auf solche islamische Gesetze lässt sich kein Widerspruch zwischen der Demokratie und den Gottesgesetzen erhalten.(...)