Euro-islam Dienstag, 15.01.2002 |  Drucken

Euro-islam



Prof. Dr. Mathias Rohe, Erlangen schrieb:



Zunächst sei dem Zentralrat für die Einrichtung dieses Forums gedankt, das eine große Chance für die Klärung vieler Fragen und Mißverständnisse bietet. Ich selbst freue mich besonders über die Zuschriften von Muslimen, die - bei allen Problemen im eizelnen - keine grundsätzlichen Schwierigkeiten darin sehen, das Praktizieren ihres Glaubens mit den Anforderungen eines friedvollen Zusammenlebens im Rahmen unserer (unser aller!) Rechtsordnung zu vereinbaren. Ich teile diese Auffassung. In diesem Zusammenhang zur Zuschrift von "Salahaddin" und anderen (übrigens finde ich es eigentlich schade, daß man auf solchen Foren meist nur anonyme Diskussionspartner hat):
Jede Diskussion über den Islam in Deutschland und Europa sollte auf gedanklich klarer Grundlage geführt werden. Das heißt konkret, daß wir generell unterscheiden müssen, ob Muslime über den Inhalt ihres Glaubens sprechen, oder ob Nicht-Muslime wie ich als Christ über das sprechen, was wir vom Islam wahrnehmen. Selbstverständlich steht es keinem "Religionsfremden" zu, sich in die innerreligiöse Frage um den richtigen Weg der jeweiligen Gläubigen einzumischen. Ein Christ kann sicherlich nichts dazu sagen, was aus islamischer Sicht "wahrer Glaube" ist. Er könnte allenfalls in eine Diskussion eintreten, welcher der "wahre" Glaube überhaupt ist, so wie dies Muslime ja auch tun, nicht zuletzt im Hinblick auf das Christentum und andere Religionen. Ich muß gestehen, daß ich eine solche Diskussion für nicht besonders fruchtbar halte und werde mich daran auch nicht beteiligen. Aus meiner Sicht kommt es darauf an, wie wir die offensichtlichen theologischen Unterschiede "aushalten", ohne übereinander herzufallen. Dabei hilft natürlich auch die Entdeckung des vielen Gemeinsamen. Für ausgesprochen fruchtlos halte ich es zudem, sich fortwährend gegenseitig die nicht immer friedlich verlaufene Geschichte vorzuwerfen. Bei genauerer Betrachtung werden wir viel Unrecht auf allen Seiten finden, und jeder sollte sich vor Verteufelung des anderen wie vor der zwanghaften Idealisierung der "eigenen" Verhältnisse hüten. Wenn die Geschichte etwas lehrt, dann dies, daß es an den Menschen liegt, sich friedlich oder aber unfriedlich zu begegnen.
In unseren religiösen Texten lassen sich Begründungen für beides finden, es kommt also auf die Haltung desjenigen an, der diese Texte interpretiert.
Was aber Nicht-Muslimen wie jedermann zusteht, ist, sich über den Islam zu äußern, wie er sich im Verhalten von Muslimen ausdrückt, und auch aus wissenschaftlicher Sicht auszuleuchten, wie sich Religion und Kultur des Islam entwickeln. Muslime sollten sich dadurch nicht in ihrem Glauben angegriffen fühlen, denn darum geht es nicht. Mögliche Probleme (gottseidank auch viel Problemloses und Schönes ) gibt es in erster Linie im Zusammenleben, und hier setzen die Sorgen an, die der Bundestagspräsident sehr zutreffend und sicherlich in Übereinstimmung mit sehr vielen Menschen aller Bekenntnisse in unserem Lande formuliert. Es tauchen immer wieder extremistische Positionen auf, die sich explizit auf den Islam berufen und sagen, als Muslim dürfe man keine nicht-islamische Ordnung anerkennen. Der selbsternannte "Kalif" Metin Kaplan ist ein Beispiel hierfür, vergleichbares findet sich z.B. aber auch in Gutachten prominenter saudi-arabischer Gelehrter im Hinblick auf die Muslime in Europa und andernorts; man kann sie im Internet nachlesen. Wenn man nun Herrschaftssysteme wie das Saudi-Arabiens sieht, das sich als (ganz besonders) islamisch definiert, wird man unschwer feststellen, daß sie in vielerlei Hinsicht zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung unseres Landes in einem krassen Gegensatz stehen. Hieraus und nicht aus "dem Islam" als Religion resultieren Befürchtungen. Deshalb muß es ein Anliegen aller Menschen in unserem Land sein, daß unsere Verfassungsordnung als Basis für friedliches Zusammenleben nicht zur Disposition steht. Soweit einzelne Muslime Positionen formulieren, die dem entgegenstehen, muß klar sein, daß sie nicht zu dem hierzulande akzeptablen Spektrum an Handlungsmöglichkeiten zählen. Nicht mehr und nicht weniger meint wohl der Begriff des "Euro-Islam" oder des "deutschen Islam". Es geht nicht um eine Revision des Koran oder eine Einmischung in die Religion des Islam allgemein, sondern um eine Grenzbestimmung der hier akzeptablen Auslegungen und Handlungsweisen. Nochmals: Die mit Mühen erkämpfte freiheitliche demokratische Ordnung steht nicht zur Disposition. Das schöne an ihr ist ja aber auch gerade, daß sie Freiheit, auch Religionsfreiheit, gewährleistet. Diese Haltung entspricht auch auch einem Anliegen der meisten Muslime, die ich kenne, und es sind viele. Dies bringt mich zum Brief von G.W.: Wir sollten es uns meines Erachtens abgewöhnen, den hiesigen Muslimen die offenkundigen Mißstände in der islamischen Welt ständig um die Ohren zu hauen. Viele von ihnen sind doch eben deshalb zu uns gekommen, und im übrigen sind sie für solche Mißstände nicht verantwortlich. Ich würde mich als evangelischer Christ auch daran stören, wenn mir jemand meine Sozialverträglichkeit unter Hinweis auf die Drangsalierung katholischer Grundschüler durch Protestenten in Belfast absprechen würde. "Mein" Problem ist die Situation in Belfast allerdings insofern, als es für einen Christen wichtig wird, deutlich zu machen, daß die dortigen Geschehnisse nichts mit seinem Verständnis des Christentums zu tun haben. In ähnlicher Weise ist es natürlich hilfreich, wenn europäische Muslime zu Mißständen in der "islamischen Welt" (die ja bei uns vielleicht islamischer ist als in dem einen oder anderen orientalischen Land) Stellung nehmen, z.B. zu der Verfolgung Andersgläubiger, auch Christen, in Ländern mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit. Das Werben um Verständigung würde gewiß einfacher, wenn ich als Nicht-Muslim und Wissenschaftler nicht nur beobachtend auf die unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeiten und Lebensverhältnisse hinweisen könnte, sondern z.B. auf deutliche und auch theologisch ausformulierte Stellungnahmen angesehener muslimischer Personen oder Gremien, die aus dem Islam heraus zeitgemäße Konzepte für das Leben von Muslimen und anderen in einem System echter gleichberechtigter Religionsfreiheit (einschließlich des Religionswechsels und der Freiheit, nicht religiös zu sein) entwickeln.
Eben solche Hoffnungen verbinden sich mit dem Streben nach einem "Euro-Islam".
Vielleicht wäre es tatsächlich besser, mit dem Vorsitzenden des Zentralrats von einem Islam deutscher oder europäischer Prägung zu reden. Daran würde deutlich, daß es um die Organisation des Zusammenlebens geht und nicht um Einmischung in religiöse Wahrheiten. Vielleicht könnten wir uns dann den vielen Detailproblemen zuwenden, deren Lösung das Leben erleichtern würde: Wie schaffen wir es, daß muslimische Mädchen sich ohne Bedenken an Klassenfahrten beteiligen? Wie können wir die Errichtung von Moscheen planen, die den Bedürfnissen der Muslime nach einem "Gemeindezentrum" gerecht werden und zugleich die Nachbarn nicht überforden (Stichwort Gebetsruf bzw. auch Glockengeläut; hier geht es ja immer um die Lösung des Konflikts zwischen der Freiheit, zum Gebet zu rufen, und der, nicht gerufen werden zu wollen)? Wie läßt sich ein Bildungswesen einrichten, in dem die Muslime selbst über die Inhalte der Vermittlung ihrer Religion entscheiden, das aber auch den rechtlichen, wissenschaftlichen und pädagogischen Anforderungen unseres Bildungssystems genügt? Und allgemeiner: Wie bringen wir es fertig, miteinander zu reden und dabei nicht nur Freundlichkeiten auszutauschen, sondern auch Probleme anzusprechen und möglichst zu lösen, ohne gleich verbal oder noch schlimmer aufeinander loszugehen? Das wird nur erreichbar sein, wenn alle die Spielregeln der herrschenden Rechtsordnung anerkennen und wenn der gute Wille des Gesprächspartners jeweils erkennbar wird, und den werden wir vor allem brauchen. Guter Wille heißt maßgeblich, daß wir den anderen zunächst als Individuum wahrnehmen und nicht mit unserem eigenen Vorverständnis befrachten; es heißt auch, daß wir die Kultur des anderen gerecht betrachten, also z.B. nicht pauschal den "rückständigen und grausamen Orient" dem "aufgeklärten und modernen Westen" gegenüberstellen und auch nicht den "menschlichen und ehrbaren Orient" dem "materialistischen, seelenlosen
und verderbten Westen". Aus inzwischen langjähriger, in vielen Ländern gesammelter Lebenserfahrung glaube ich sagen zu können, daß die Anteile der anständigen und der weniger anständigen Menschen weltweit ähnlich verteilt sind. Guter Wille heißt übrigens nicht, daß jede Forderung erfüllt werden kann. Muslime, die aus anderen Ländern zu uns gekommen sind und einen Gesprächsstil kennen, in dem direkte Kritik mehr oder weniger als Ehrverletzung aufgefaßt wird, mögen erkennen, daß hierzulande das in aller Freundschaft gesprochene "offene Wort" üblich ist und nicht ohne weiteres auch einen Angriff beinhalten soll. Andererseits müßten wir sehen, daß es für Muslime eine Zumutung ist, immer nur aus der Defensive heraus nachweisen zu müssen, daß sie keine potentiellen Terroristen sind. Wer den Eindruck gewinnen muß, zuallererst als "Problem" wahrgenommen zu werden, wird es schwer haben, in einen sachlichen Dialog einzutreten. In keinem Falle sollten wir uns gegenseitig die Berechtigung absprechen, zu allen Themen Stellung zu nehmen; grundsätzliche Denk- und Redeverbote widersprechen einer freiheitlichen Gesellschaft. In dieser Hinsicht sollte sich z.B. "Salahaddin" noch einmal überlegen, ob er sich nicht in Inhalt und Tonfall seiner Äußerungen gegen den Bundestagspräsidenten vergriffen hat.
Im übrigen sollten wir auch nicht vergessen, daß ein ganz erheblicher Teil der Probleme im gesellschaftlichen Miteinander nichts mit der Religion, viel aber mit kulturellen und persönlichen Prägungen zu tun haben. Wenn etwa ein türkisches Kind nicht genügend Deutsch versteht, um sinnvoll am Unterricht teilnehmen zu können, so hat das mit der Religion nichts, aber auch gar nichts zu tun. Auch manche Eigentümlichkeit im Umgang zwischen den Geschlechtern hat sehr viel weniger religiösen als allgemein sozialen/kulturellen Hintergrund. Auch hier also tut der genaue Blick auf den Einzelfall not.
In solchem Sinne wünsche ich uns allen den notwendigen langen Atem, um gemeinsam eine Form des Umgangs zu finden, die vielleicht sogar Modell für das Miteinander in anderen Regionen der Welt sein könnte.

Prof. Dr. Mathias Rohe, Erlangen


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