Newsnational Freitag, 28.11.2014 |  Drucken


Papst-Besuch in Türkei: Neue Freiheiten für Christen unter Erdogan?

Erdogan will Papst im Kampf gegen Islamfeindlichkeit gewinnen– Christliche Minderheiten bekommen die unter Atatürk konfiszierte Liegenschaften wieder zurück – Kritik der Türkischen Religionsbehörde: Papst soll Soldaten mit Stiefeln in die Al-Aksa-Moschee in Jerusalem verurteilen

Für Papst Franziskus  dürfte eines der Gesprächsthemen während der Begegnungen mit Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan und anderen staatlichen und kirchlichen Vertretern die Lage der etwa 100.000 Christen im Land sein. Christen und Religionsgemeinschaften überhaupt, also auch Muslime, haben in der streng laizistischen Republik des Kemal Atatürk seit jeher einen schweren Stand. Seit dem Regierungsantritt von Erdogan als Ministerpräsident 2003 sprechen viele Beobachter jedoch von einer «Islamisierung» der Türkei. Für die christlichen Kirche scheint dies allerdings kein Nachteil zu sein, wie ein Besuch in Istanbul nahelegt.

Der armenisch-apostolische Patriarchalvikar in Istanbul, Erzbischof Aram Atesyan, etwa sieht Fortschritte für die Christen unter der Regierung der AKP von Staatspräsident Erdogan. Der Vertreter der größten christlichen Kirche in der Türkei verweist vor Journalisten darauf, dass man dort nun frei die Religion wechseln könne. Nach dem Gesetz sei dies zwar auch schon früher möglich gewesen. In der Praxis hätten die Gerichte, denen dieses Ansinnen vorgetragen werden musste, einen Übertritt jedoch meist abgelehnt. Heute sei ein Religionswechsel zumindest von staatlicher Seite aus nur noch eine Formalie.

Auch der Ökumenische Patriarch Bartholomaios I. registriert einen größeres staatliches Entgegenkommen gegenüber seiner Kirche seit dem Regierungsantritt Erdogans. So werde er etwa seit einiger Zeit in offiziellen türkischen Dokumenten als «Ökumenischer Patriarch» bezeichnet. Diesen Titel, der seinen Ehrenvorrang innerhalb der orthodoxen Christenheit zum Ausdruck bringt, hatte die Türkei ihm früher verweigert. Auf die Genehmigung für ein eigenes griechisch-orthodoxes Priesterseminar allerdings wartet er bislang vergeblich. Man habe ihm gesagt, dass die griechische Regierung auch keine neue Moschee in Athen genehmige. Das ist aus seiner Sicht ein Unding: «Wir sind vollberechtigte türkische Bürger und dürfen nicht Opfer der türkisch-griechischen Beziehungen sein.»

Der syrisch-orthodoxe Metropolit in Istanbul, Yusuf Cetin, zeichnet ebenfalls ein insgesamt positives Bild der Entwicklung in den vergangenen Jahren. Besonders gravierend bleibt aus seiner Sicht jedoch, dass Christen an staatlichen Schulen weiter diskriminiert würden. Sunnitisch-islamischer Religionsunterricht ist dort Wahlpflichtfach. Wer ihn abwähle, dem fehlten auf dem Zeugnis Punkte. Alternativen zum islamischen Religionsunterricht sind das Fach «Geschichte des Propheten Mohammed» oder Arabisch.

Als "revolutionär" feierte vor drei Jahren die türkische Gesellschaft ein von damals noch als Ministerpräsident tätigen Recep Tayyip Erdogan unterzeichnetes Dekret, das grundsätzlich die Rückgabe des seit 1936 enteigneten Besitzes der anerkannten religiösen Minderheiten des Landes vorsieht. Erdogan unterschrieb den Erlass kurz bevor er an einem Iftar – der Mahlzeit am Ende eines Tages im Fastenmonat Ramadan – teilnahm. Dabei erklärte Erdogan: "Wir wissen um die Ungerechtigkeiten, die verschiedene religiöse Gruppen erlitten haben. Die Zeit ist vorbei, in der Staatsbürger wegen ihrer religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit unterdrückt werden konnten." Das Gesamtvolumen beziffert sich in etwa auf 3,6 Milliarden Euro, welches der Staat in den nächsten Jahren dafür aufbringen muss.
Vor allem die türkischen Griechen haben – nach langem Leiden – Grund zur Freude: Kaum 2000 Griechen leben noch in der Türkei, aber ihnen könnten bis zu 1000 Immobilien zurückgegeben werden, Kirchen, Schulen, Friedhöfe, Brunnen, und Bauten, die mittlerweile kommerziell genutzt werden, etwa als Lager oder gar als Nachtklub. Den Angaben zufolge könnten auch bis zu 100 Liegenschaften der armenischen Religionsgemeinschaften ihren ursprünglichen Besitzern übergeben werden.

Der Leiter des türkischen Religionsamtes DIYANET, Staatsminister Mehmet Görmez, hat die Erwartungen bezüglich des Papstbesuches gedämpft. «Gewiss können religiöse Institutionen miteinander über moralische Fragen der Welt sprechen», sagte Görmez in einem Interview der italienischen Tageszeitung «La Stampa» (Donnerstag). Aber von solchen Reisen «Werte zu erwarten, die über einfache menschliche Beziehungen hinausgehen, endet damit, dass wir uns voneinander entfernen», so Görmez. Der Begriff «interreligiöser Dialog» werde für Christentum
und Islam nicht gebraucht, erklärte er. Der Vatikan verwende ihn eher für das Gespräch mit den christlichen Konfessionen. Weiter forderte Görmez den Vatikan auf, «angesichts von Vorgängen, die religiöse Gefühle stören» ebenso wie die Türkei kritisch Stellung zu beziehen. Als Beispiele nannte er das Eindringen israelischer Soldaten mit Stiefeln in die Al-Aksa-Moschee in Jerusalem oder einen Überfall auf eine Synagoge. (KNA/Eigene Text)




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