islam.de - Druckdokument - Druckdatum: Donnerstag, 28.03.24
http://www.islam.de/26174.php


islam.de - Alle Rechte vorbehalten

Montag, 02.03.2015


Juden sind für Muslime Geschwister

Antisemitismus unter Muslimen? Von Muhammad Sammeer Murtaza

Antisemitismus unter Muslimen ist ein Phänomen, das seit einigen Jahren auch in der muslimischen Community thematisiert wird.[i] Die Äußerung von Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden, dass es in Vierteln mit hohem Anteil von Muslimen für Juden gefährlich sei, eine Kippa zu tragen ist nicht unberechtigt. Wir kennen aus der Vergangenheit Fälle, in denen Juden beschimpft, angespuckt oder sogar angegriffen worden sind. Dieses Verhalten ist für die muslimische Religionsgemeinschaft äußerst beschämend. Insofern können Muslime Herrn Schuster nur dankbar sein, denn er nimmt sie in die Pflicht, dort die Stimme zu erheben, wo gegen das Ethos des Islam verstoßen wird.            

Der islamisch verbrämte Antisemitismus, dieses Krebsgeschwür, gezüchtet von Autoren wie Sayyid Qutb,[ii] ist ein modernes Phänomen, das im Zuge des Nahost-Konfliktes entstand.[iii] Viel zu lange haben diejenigen, die Verantwortung in der muslimischen Religionsgemeinschaft tragen, Gelehrte und Intellektuelle, hier weggesehen oder wurden selber von dieser Seuche infiziert. Heute sind wir auch unter Muslimen mit einem religiösen Analphabetismus konfrontiert, was das Judentum, aber auch die islamische Ethik betrifft. Die meisten Muslime wissen nichts über das Judentum. Sie wissen so gut wie nichts über den jüdischen Glauben, die jüdische Praxis oder das jüdische Selbstverständnis. Juden werden einzig und allein durch den Nahost-Konflikt als der Andere, der Gegner, der Feind wahrgenommen. In den seltensten Fällen sind antisemitisch eingestellte Muslime überhaupt je Juden begegnet, was natürlich die Konstruktion von Feindbildern und deren Verbreitung erleichtert. Aufklärung ist vonnöten! Beginnen wir also mit einer einfachen Frage: Wer sind die Juden?    

Das Volk Israel
 

In seinen Anfangstagen war das spätere Volk Israel ein umherziehender Nomadenklan. Als solches waren die Hebräer[iv] auf Wasserstellen für ihre Kleinviehherden angewiesen. Im Sommer wanderten sie daher aus den Wüsten und Steppen in das Kulturland Kanaan, was heute dem Gebiet Palästinas entspricht. Zwischen dem 15./14. Jahrhundert bis zum 13. Jahrhundert v. Chr. begannen die Hebräer sich schrittweise unter Führung der Patriarchen in Kanaan niederzulassen. Es war eine Übergangszeit vom Nomadentum zur Sesshaftigkeit.[v] Sehr schnell wurde deutlich, das Volk Israel unterscheidet sich von seiner polytheistischen Umgebung, denn es berief sich auf einen Bund mit einem Gott. Nicht irgendeinem Gott, sondern den einen und einzigen Gott. Das Bekenntnis zum Monotheismus war das einzigartige Urbekenntnis der Hebräer, doch teils durch die polytheistische Umwelt, teils durch die Stammesmentalität beeinflusst, wich es der Monolatrie. Monolatrie bedeutet, dass Gott lediglich als Gott des eigenen Volkes/Stammes angesehen wird, was jedoch nicht die Existenz anderer Götter in anderen Völkern/Stämmen ausschließt, die aber nicht verehrt werden dürfen. Nicht alle Gruppen nomadischer Israeliten ließen sich in Palästina nieder, einige wanderten weiter und gelangten schließlich nach Ägypten – wie es ägyptische Grenzbeamte festgehalten haben – wo die Ägypter sie nach und nach zur Fronarbeit zwangen. Diese Israeliten fanden in Moses ihren Retter, der sie im Namen des Gottes JHWH[vi] aus Ägypten führte. Diese Gruppe, die als die Moseschar bezeichnet wird, wurde auf dem Gottesberg in der midianitischen Wüste als Gemeinde konstituiert und ihr ein Mitanrecht an dem Kulturland in Kanaan gegeben. Schließlich wäre die Flucht aus Ägypten sinnlos gewesen, wenn die bereits im Kulturland Kanaans angesiedelten Israeliten es ihnen verweigert hätten, sich dort niederzulassen. Mit dem Anspruch auf Land zog die Moseschar dann in Kanaan ein, wo sie allem Anschein nach ihr Recht geltend machen konnte und unter den Israeliten aufging.[vii] Die Gottesvorstellung in den Patriarchensippen wie auch innerhalb der Moseschar erstreckte sich von einem minoritären und strikten Jahwe-allein-Glauben bis hin zu Monolatrie und Polytheismus. Erst zwischen dem sechsten und siebten Jahrhundert   v. Chr. vermochte es die Jahwe-allein-Bewegung sich endgültig im Volk Israels durchzusetzen. Spuren dieses Ringens finden sich in der Thora:   Als sich die Menschen über die Erde hin zu vermehren begannen und ihnen Töchter geboren wurden, sahen die Gottessöhne, wie schön die Menschentöchter waren, und sie nahmen sich von ihnen Frauen wie es ihnen gefiel. (…) In jenen Tagen gab es auf der Erde die Riesen, und auch später noch, nachdem sich die Gottessöhne mit den Menschentöchtern eingelassen und diese ihnen Kinder geboren hatten. Das sind die Helden der Vorzeit, die berühmten Männer. (Genesis 6,1-4)  

Als der Höchste (den Göttern) die Völker übergab, / als er die Menschheit aufteilte, / legte er die Gebiete der Völker / nach der Zahl der Götter fest; der Herr nahm sich sein Volk als Anteil, / Jakob wurde sein Erbland (Deuteronomium 32,8-9)
  Höre Jisrael! Der Ewige, unser Gott, ist ein einziges, ewiges Wesen. Du sollst den Ewigen, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, ganzer Seele und ganzem Vermögen. Die Worte, die ich dir jetzt befehle, sollen dir stets im Herzen bleiben. Du sollst sie deinen Kindern einschärfen und immer davon reden, wenn du zu Hause sitzt oder auf Reisen bist, wenn du dich niederlegst und wenn du aufstehst. Binde sie zum Zeichen an deine Hand. Trage sie als Stirnband zwischen deinen Augen und schreibe sie auf die Pfosten deines Hauses und an deine Tore. (Deuteronomium 6,4-9)  

Deuteronomium 6,4-9
stellt das Urbekenntnis der Juden dar, das sie im täglichen Morgen- und Abendgebet aufsagen. Die eigentliche Sünde im Judentum stellt der Abfall von Gott dar. Die monotheistischen Israeliten sahen sich – geprägt durch ihr polytheistisches Umfeld – in einer besonderen Beziehung zu Gott. Im eigenen Verständnis bilden sie eine Gemeinschaft mit Ihm. Als Volk, das seine Existenz einem theozentrischen Bund verdankt, sehen sich die Juden als Volk Gottes und damit als erwählt an. Dieser Erwählungsgedanke ist aber kein religiöser Chauvinismus und darf auch nicht als solches von Nichtjuden und Juden verstanden werden. Der Theologe Fohrer erläutert diesen Erwählungsgedanken folgendermaßen:   „Es wäre abwegig und falsch, den Erwählungsglauben als Ausdruck nationaler Anmaßung und Überheblichkeit zu be- oder verurteilen und dem Judentum die Ansicht zu unterstellen, es besitze von sich aus besondere Vorzüge gegenüber den anderen Völkern und sei somit das „auserwählte Volk“. Die „Erwählung“ besteht vielmehr darin, dass es mit Gott in einem besonderen Lebensverhältnis steht und dass es darum mit einer besonderen Aufgabe betraut ist: die ihm in der Tora auferlegten Pflichten selbst auszuüben und die anderen Völker darüber zu belehren.“[viii]  

Als Volk und Religionsgemeinschaft zugleich, sind die Juden eine Abstammungsgemeinschaft, da man als Jude geboren wird, sofern die Mutter jüdisch ist.[ix] Doch das Judentum ist auch eine Wahlgemeinschaft, d. h. durch Konversion kann ein Nichtjude der jüdischen Religion beitreten. Der Glaube an den einen Gott, der Bund mit Ihm und das Erahnen der eigenen Besonderheit in einem polytheistischen Umfeld bewirkte bei den Hebräern eine geistige Revolution, die sich in allen Facetten des jüdischen Lebens widerspiegelt:  

(1) Dieser Glaube befreite und bewahrte sie vor einer Weltanschauung, in der der Mensch der Willkür von Göttern, Halbgöttern, Gottmenschen, Magie und Aberglauben ausgesetzt ist. Juden sind freie Menschen, indem sie frei durch und unter Gott sind. Dieser Gott ist kein willkürlicher Gott, sondern dem Volk Israel wohl gesonnen. Die theozentrische, also vertikale Beziehung zu Gott basiert auf dem Prinzip von Ursache und Wirkung. Anders ausgedrückt, die Handlungen bestimmten das Verhältnis zu Gott. Deutlich berichtet hiervon das Richterbuch:  

Die Israeliten taten, was dem Herrn missfiel, und dienten den Baalen. Sie verließen den Herrn, den Gott ihrer Väter, der sie aus Ägypten herausgeführt hatte, und liefen anderen Göttern nach, den Göttern der Völker, die rings um sie wohnten. Sie warfen sich vor ihnen nieder und erzürnten dadurch den Herrn. Als sie den Herrn verließen und dem Baal und den Astarten dienten, entbrannte der Zorn des Herrn gegen Israel. Er gab sie in die Gewalt von Räubern, die sie ausplünderten, und lieferte sie der Gewalt ihrer Feinde ringsum aus, so dass sie ihren Feinden keinen Widerstand mehr leisten konnten. Sooft sie auch in den Krieg zogen, war die Hand des Herrn gegen sie, und sie hatten kein Glück, wie der Herr gesagt und ihnen geschworen hatte. So gerieten sie in große Not. (Richterbuch 2,11-15)
 

(2) Da alle Hebräer im gleichen Maß in Gemeinschaft mit Gott stehen, sind sie eine Gesellschaft der Gleichen. Jede Form von Mittlern wird abgelehnt, ob im Sinne einer niedrigeren Gottheit, eines Engel- oder Heiligenkultes oder einer elitären Klasse von Geistlichen, die einen gesonderten Zugang zu Gott besitzt.[x] Damit verwehren sich die Juden einer Herrschaft von Menschen über Menschen, gleich in welcher Form. Machtausübung ist nur dann legitim, wenn sie innerhalb des Bundes ausgeübt wird. Wiederum lässt sich sagen, die Juden sind ein Volk der Freien, frei durch und unter Gott.  

Mit dieser Geisteshaltung waren die Israeliten in Kanaan einzigartig. In einem Umfeld, in dem die Juden als einziges Volk den Monotheismus vertraten, war die abgrenzende Dialektik Auserwähltes Volk Gottes/Polytheisten schlüssig. Auch mit dem Auftreten des Christentums und der baldigen Etablierung der Trinitätslehre änderte sich nichts daran. Der strenge Monotheismus des Judentums erlaubt keine Aufspaltung Gottes in eine Mehrheit von Personen, die mit einer gewissen Unabhängigkeit voneinander ausgestattet sind.
So schreibt der Theologe Georg Fohrer:   „Das Judentum hat darum in der Trinitätslehre stets ein Abweichen vom reinen Eingottglauben erblickt und erblicken müssen, denn in der Behauptung der Einzigkeit Gottes sah es zugleich dessen völlige Einheit und Undifferenzierbarkeit ausgedrückt.“[xi]   Erst mit dem Auftreten des Islam, der den gleichen strengen Monotheismus wie das Judentum vertritt, mussten Juden diese Dialektik überdenken. Günter Stemberger, Professor für Judaistik, merkt an:   „Doch weiß die Bibel von einem Bund Gottes mit Noach, der zwischen Gott „und allen Wesen aus Fleisch auf der Erde“ gilt (Gen 9). Von hier werden die (meist als sieben gezählten) „noachidischen Gebote“ abgeleitet: Verboten sind Götzendienst, Gotteslästerung, Unzucht, Mord, Raub und der Genuß eines Gliedes eines noch lebenden Tiers; geboten ist die Einrichtung einer Rechtsordnung. Wer sich an diese Grundregeln hält, gilt nicht als Götzendiener“, sondern als „Frommer der Weltvölker“, der seinen Platz in der göttlichen Weltordnung hat, auch wenn er nicht zum Judentum übertritt. Anhänger des Islam hat man von Anfang an dieser Kategorie zugeordnet; Christen hat man (vor allem wegen des Glaubens an die göttliche Trinität) erst im Laufe des Mittelalters und auch dann nicht einhellig diesen Status zuerkannt“[xii].  

Die für Christen und Muslime sicherlich schwer nachvollziehbare Verquickung von Abstammung und Religion bezeugt der männliche Jude auch mit dem Akt der Beschneidung (Brit Mila).

Gemäß der Tora heißt es:   Ich werde meinen Bund zwischen mir und dir und deinem Samen nach dir für ihre künftigen Geschlechter zu einem ewigen Bund machen, um nämlich dein und nach dir deines Samens Gott zu sein. Dir und deinem Samen nach dir werde ich das Land deines Aufenthaltes, das ganze Land Kanaan, zum ewigen Besitz geben, und ich werde ihr Gott sein.“ Gott sprach ferner zu Abraham: „Auch du musst aber meinen Bund halten, du und dein Same nach dir für ihre künftigen Geschlechter. Dies ist der Bund zwischen mir und dir und deinem Samen nach dir, den ihr halten sollt: Ihr müsst alles beschneiden, was männlich ist. Beschneidet eure Vorhaut. Dies soll das Bundeszeichen sein zwischen mir und euch. Alles Männliche bei euren Nachkommen soll, wenn es acht Tage alt ist, beschnitten werden, ein hausgeborenes Kind oder eines von einem Fremden für Geld gekauft, das nicht von deinem Samen ist. Beschnitten muss werden, was in deinem Haus geboren wurde und was du mit Geld gekauft hast, damit mein Bund an eurem Fleisch ein ewiger Bund sei. Ein unbeschnittener Mann aber, welcher das Fleisch seiner Vorhaut nicht beschneiden wird, dieselbe Person soll ausgerottet werden aus ihrem Volk. Sie hat meinen Bund zerstört.“ (Genesis 17,7-14)  

Die Beschneidung nimmt einen dermaßen hohen Stellenwert im Judentum ein, dass einige Rabbiner die Haltung vertraten, dass Himmel und Erde nicht ohne das Blut des Bundes existieren würden. Volk, Glaube und Land, auf dieser Dreiheit basiert das Judentum. Dies bedeutet konsequenterweise, dass ein Jude nur dann vollwertiges Mitglied des Bundesvolkes ist, wenn er im Land Kanaan lebt. Wenn immer Juden gezwungen waren, das Land zu verlassen, so lebte doch immer in ihnen die Hoffnung und die Sehnsucht in dieses wieder zurückzukehren. Der Tanach kleidet diese Sehnsucht mit den Worten:  
Dann bauen sie die uralten Trümmerstätten wieder auf / und richten die Ruinen ihrer Vorfahren wieder her. Die verödeten Städte erbauen sie neu, / die Ruinen vergangener Generationen. (Jesaja 61,4)
 

Doch diese Sehnsucht darf von niemandem politisch instrumentalisiert werden und sie ist erst recht nicht Grundlage der israelischen Regierungspolitik und der Siedlungsbewegung, denn die Goldene Regel in der Thora lautet: Darum sollt ihr auch die Fremdlinge lieben; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland. (5. Mose 10,19)  

Gottes Willen und die Lebensordnung für Sein Volk offenbart sich in der Thora. Sie lehrt den Juden, wie er als Mitglied dieser auserwählten Gemeinschaft sein Leben unter Gott zu führen hat. In Psalm 15 heißt es:   Herr, wer darf Gast sein in deinem Zelt, / wer darf weilen auf deinem heiligen Berg? Der makellos lebt und das Rechte tut; / der von Herzen die Wahrheit sagt / und mit seiner Zunge nicht verleumdet; der seinem Freund nichts Böses antut / und seine Nächsten nicht schmäht; der den Verworfenen verachtet, / doch alle, die den Herrn fürchten, in Ehren hält; der sein Versprechen nicht ändert, / das er seinem Nächsten geschworen hat; der sein Geld nicht auf Wucher ausleiht und nicht zum Nachteil des Schuldlosen Bestechung annimmt. Wer sich danach richtet, / der wird niemals wanken.  

Die Thora ist Grundlage der Halacha, des jüdischen Rechts, auf dem das Volk Israel seine Gesellschaft und Kultur aufbaute.[xiii] Das rechte Gesamtverhalten des Menschen stellt für den Juden Gerechtigkeit dar. Gerechtigkeit ist für einen Juden kein abstrakter Begriff, sondern ein Verhaltensbegriff. Etwas, dass durch Tun erreicht werden kann. So heißt es in der Thora:   Der Gerechtigkeit, der Gerechtigkeit sollst du nachtrachten. (…) (Deuteronomium 16,20)    

Muslime in der Verantwortung
 

Glaube an den einen Gott, rechtschaffendes Handeln im Leben und Glaube an den Jüngsten Tag stellen nach dem Qur’an die Kriterien für einen monotheistischen Heilsweg dar (siehe Sure 2, Vers 62; Sure 5, Vers 69 und Sure 22, Vers 17). Wer als Muslim das Wort Jude als Schimpfwort verwendet, der verhält sich genauso wie jene Islamophoben, die das Wort Muslim als Schimpfwort aussprechen. Wer Juden beleidigt, der beleidigt die Propheten Moses, David, Salamo und Jesus, die allesamt aus dem jüdischen Volk entstammen und an deren Prophetentum zu Glauben Verpflichtung für jeden Muslim ist (siehe Sure 4, Vers 163 und Sure 2, Vers 285). Wer Juden schmäht, der sollte wissen, dass einer der bedeutendsten muslimischen Gelehrten des 20. Jahrhunderts ein Jude war: Muhammad Asad (gest. 1992), geboren Leopold Weiss. Wer Juden abwertet, der wertet die Ehefrau des Propheten Muhammad, Safiyya bint Huyayy, ab, die eine Jüdin war und wie alle Ehefrauen des Propheten den Ehrentitel Mutter der Gläubigen (umm al-mu’minin) trägt. Wer Verschwörungstheorien über Juden strickt, der handelt nicht anders als jene Islamophoben, die von einer Islamisierung des Abendlandes durch eine globale muslimische Verschwörung reden. Wer Juden für die Politik des Staates Israels verantwortlich macht, der unterscheidet sich nicht von jenen, die Muslime für den Terror des IS und der Al-Qaida verantwortlich machen. Wer Anschläge auf Synagogen begeht oder gutheißt, der handelt nicht anders als jene Islamophoben, die Anschläge auf Moscheen begehen. Wer glaubt, einen Molotowcocktail gegen die Mauer einer Synagoge zu werfen sei ein rechtschaffener Akt, der soll wissen, dass Gott im Qur’an Synagogen unter Seinen Schutz gestellt hat (siehe Sure 22, Vers 40). Wer eine Synagoge angreift, der greift Gott an und gilt bei Ihm als ein Verworfener (siehe Sure 2, Vers 114). Wer nicht bereit ist zu differenzieren, aber von Nichtmuslimen verlangt hinsichtlich des Islam zu differenzieren, dem sei gesagt, er ist ein Heuchler. 
          
Gott spricht im Qur’an:   Wer aber glaubt und das Rechte tut, die werden Bewohner des Paradieses sein und werden ewig darin verweilen. (2:82)   Und wer Gutes (auch nur) im Gewicht eines Stäubchens getan hat, wird es sehen, und wer Böses (auch nur) im Gewicht eines Stäubchens getan hat, wird es sehen. (99:7-8)   Diejenigen, aber, welche glauben und das Gute tun – Wir lassen den Lohn derer, deren Werke gut sind, sicherlich nicht verlorengehen. Ihnen sind die Gärten Edens bestimmt, durcheilt von Bächen. Geschmückt sein werden sie darin mit goldenen Armspangen und gekleidet in grüne Gewänder aus Seide und Brokat; und dort werden sie auf Polsterkissen ruhen. Ein herrlicher Lohn und eine schöne Ruhestätte! (18:30-31)  

Die Juden glauben wie wir Muslime glauben: gemeinsam glauben wir an den einen und einzigen Gott, gemeinsam bemühen wir uns täglich um ein rechtschaffenes Leben vor Gott, in dem Wissen, dass wir eines Tages vor Ihm Rechenschaft ablegen müssen. Uns verbindet mehr als uns trennt. Juden und Muslime sind keine Fremden und vor dem Nahost-Konflikt waren wir es auch nicht. Juden und Muslime sind Geschwister.            

Auch in der Zeit des Propheten Muhammad gab es in Medina einen politischen Konflikt zwischen der muslimischen Gemeinschaft und drei von fünf jüdischen Stämmen. Trotz aller Konflikte wertete der Gesandte Gottes niemals die Juden wegen ihres jüdisch sein ab. In einem hadith wird berichtet:   Dschabir berichtete: Eine Totenbahre wurde an uns vorbeigetragen. Da stand der Prophet ihretwegen auf, und wir standen (ebenfalls) auf. Wir sagten: „Gottes Gesandter, es ist die Bahre eines Juden.“ Er entgegnete: „Wenn ihr eine Totenbahre seht, steht auf.“ (Al-Bukhari)[xiv]   Durch seine Geste lehrte der Prophet: Solange ein Mensch sich in erster Linie durch eine Gruppenzugehörigkeit und erst in zweiter Linie durch sein Menschsein definiert, solange bleibt nicht nur derjenige, der nicht zur eigenen Gruppe gehört ein Fremder, sondern der Mensch bleibt auch sich selber ein Fremder. Erkennt der Mensch sich aber zunächst einfach als Mensch, dann sieht er auch in dem Anderen seinen Mitmenschen, der nicht anders ist als er selber. Nur die Glaubensvorstellungen, die Denkmuster, die Normen und Sprachen sind verschieden. Durch dieses Erlebnis erfährt der Mensch, was Menschlichkeit bedeutet. Er entdeckt den Einen Menschen.[xv]            

Daher ist es Zeit, höchste Zeit, dass jene Muslime, die kritisch Denken und Differenzieren können, ihre Stimmen erheben. Nicht nur die autochthone deutsche Gesellschaft hat ein PEGIDA-Problem, sondern auch die muslimische Community beherbergt Glaubensgeschwister, die die gleiche psychologische Geisteshaltung pflegen. Aufklärung lehnen sie ab. Stattdessen wollen sie sich in ihren kruden Verschwörungstheorien und Feindbilder bestätigt sehen. Bei ihnen findet sich die gleiche Verachtung für die eigenen Eliten und Intelektuellen, wie sie bei PEGIDA vorherrscht. Dennoch nimmt dies Muslime nicht aus der Pflicht. Wo Antisemitismus im Gewande des Islam verbreitet wird, da müssen kluge Köpfe stören. Wenn ein Imam in seiner Freitagspredigt gegen Juden wettert, so lasst uns aufstehen, lasst uns unsere Stimme erheben, lasst uns den Imam zurechtweisen. Denn wer Hass predigt, der vermehrt nur den Hass in dieser Welt. Doch Hass ist kein Bestandteil des Islam. Hass hat keinen Platz in einer Moschee. Und es gehört nicht zu den Aufgaben eines Imams Hass zu predigen. Wenn sich in einer Moschee antisemitische Lektüre befindet, dann lasst uns diese entfernen. Hassliteratur hat keinen Platz in einer Moschee. Wenn Jugendliche das Wort Jude als Schimpfwort benutzen, dann lasst uns diese Jugendlichen zurechtweisen. Lasst uns endlich aktiv werden gegen Antisemitismus! Es heißt in einem hadith:   Abu Saʿid Al-Khudri (Gottes Wohlgefallen auf ihm) hat gesagt: Ich hörte Gottes Gesandten (Gottes Segen und Heil auf ihm) sagen: „Wer von euch etwas zu Verabscheuendes sieht, soll es mit seiner Hand verändern, und wenn er dies nicht vermag, so soll er es mit seiner Zunge verändern, und wenn er (selbst) das nicht vermag, dann mit seinem Herzen, und dies ist das Mindeste an Glauben.“ (Muslim)[xvi]   Der Islam ist eine Religion, die jede Form von Rassismus ablehnt, umso beschämender, dass es Muslime gibt, die Rassisten sind und damit nicht dem Lebensmodell des Propheten Muhammad folgen, sondern dem Lebensmodell des Teufels, der im Qur’an ausrief: „Ich bin besser als er (…)“ (7:12).            

Solange der islamisch verbrämte Antisemitismus unter Muslimen grassiert, solange werden wir unserem eigenen Anspruch, die beste Gemeinschaft zu sein, die für die Menschen hervorgebracht worden ist, nicht gerecht (siehe Sure 3, Vers 110).    

MUHAMMAD SAMEER MURTAZA
ist Islamwissenschaftler bei der Stiftung Weltethos (http://weltethos.org/), wo er aktuell zu Gewaltlosigkeit im Islam forscht. Kürzlich erschien sein Buch Islam. Eine philosophische Einführung und mehr…    



Literatur
  Al-Nawawi (o. J.): Vierzig ·Hadīṯe. Kuwait. Clauss, Manfred (1999): Das alte Israel: Geschichte, Gesellschaft, Kultur. München. Denffer, Ahmad von (o. J.): Allahs Gesandter hat gesagt… Islamabad. Fohrer, Georg (1979): Glaube und Leben im Judentum. Heidelberg. Fohrer, Georg (1988): Erzähler und Propheten im Alten Testament. Geschichte der israelitischen und frühjüdischen Literatur. Wiesbaden. Funk, Rainer (2007): Erich Fromms kleine Lebensschule. Freiburg. Murtaza, Muhammad Sameer (2010): "Laßt uns die Feindbilder auf beiden Seiten einreißen" – Ein Plädoyer für Besonnenheit, Differenzierung und Dialog. Internet: http://islam.de/15933.php. Murtaza, Muhammad Sameer (2011): Das "Projekt Weltethos" als Vermittler zwischen Juden und Muslimen. Internet:http://islam.de/19077.php. Murtaza, Muhammad Sameer (2012a): Die Würde des Menschen in der Tora und im Qur'an. In: Ökumenische FriedensDekade: Mutig für Menschenwürde: 10-11. Murtaza, Muhammad Sameer (2012b): Gemeinsames Kernethos von Judentum und Islam. Was kann das "Projekt Weltethos" zum jüdisch-muslimischen Dialog beitragen? In: Islam - Kultur - Politik (Jan-Feb): 3-4. Murtaza, Muhammad Sameer (2012c): Jenseits von Eden. Was die Anschläge von Toulouse bedeuten und vor welche Herausforderungen sie die muslimische Community stellen. Internet: http://islam.de/20027. Murtaza, Muhammad Sameer (2012d): Sayyid Qutbs hermeneutische Methoden und Auslegung des Qur'ans am Beispiel der Sure al-baqara. In: Karimi, Milad; Khorchide, Mouhanad: Jahrbuch für Islamische Theologie und Religionspädagogik. Freiburg: 39-61. Murtaza, Muhammad Sameer (2013a): Die Fähigkeit zur Selbstkritik am Beispiel des islamisch verbrämten Antisemitismus. Internet: http://islam.de/22132. Murtaza, Muhammad Sameer (2013b): Die simple Unterteilung in Gut und Böse. Die Genealogie der HAMAS. Internet: http://www.islamische-zeitung.de/?id=16569. Murtaza, Muhammad Sameer (2014a): Der Universalismus in Thora und Qur'an. Internet: http://islam.de/24024.Murtaza, Muhammad Sameer (2014b): Was können Muslime gegen Antisemitismustun? Internet: http://islam.de/23982.Stemberger, Günter (1995): Jüdische Religion. München













[i]  Siehe: Murtaza, Muhammad Sameer (2014b).











[ii]  Siehe: Murtaza, Muhammad Sameer (2012d: 39-61).











[iii]  Siehe: Murtaza, Muhammad Sameer (2013a).











[iv]  Biblischer Ausdruck für die Juden.











[v]  Vgl. Clauss, Manfred (1999: 11). u. Fohrer, Georg (1988: 38).











[vi]  Jahweh ist eine mögliche Aussprache des Tetragrammaton JHWH. Von vielen Juden wird der Name Gottes nie ausgesprochen.











[vii]  Vgl. Fohrer, Georg (1988: 39-42).











[viii]  Vgl. Fohrer, Georg (1979: 21).











[ix]  Dies war aber nicht immer so, noch im 1. Jahrhundert wurde größeren Wert auf den jüdischen Vater gelegt. Heiratete eine Jüdin einen Nichtjuden, dann galten die Kinder als nichtjüdisch. Erst nach der Zerstörung des Tempels 70 n. Chr. hat sich das matrilineare Prinzip im Judentum durchgesetzt. Vgl. Stemberger, Günter (1995: 11).











[x]  Vgl. Fohrer, Georg (1979: 19).











[xi]  Fohrer, Georg (1979: 17).











[xii]  Stemberger, Günter (1995: 21-22).











[xiii]  Für die Bedeutung der Halacha im jüdischen Leben, siehe: 2. Makkabäer 7,1-41.











[xiv]  Denffer, Ahmad von (o. J.): Allahs Gesandter hat gesagt… Islamabad: 146.











[xv]  Vgl. Funk, Rainer (2007): Erich Fromms kleine Lebensschule. Freiburg: 25.











[xvi]  Al-Nawawi (o. J.: 98).