Newsnational Montag, 15.02.2016 |  Drucken

Die Macht des Stigmas

Die Übergriffe der Silvesternacht – Eine andere Wahrheit. Von Mohammed Khallouk

Seit den Übergriffen auf Frauen in der Silvesternacht 2015/16 ist die öffentliche Debatte in Deutschland zum einen von Sicherheitsdiskussionen bestimmt. Zum anderen hat das Bekanntwerden einer nordafrikanischen Herkunft der meisten daran beteiligten, jungen Immigranten von der Südseite des Mittelmeers vielfach das Stigma, einer integrationsunwilligen, zu Kriminalität und Sexismus neigenden Personengruppe anzugehören, eingetragen.

Unabhängig davon, dass manches ungerechtfertigte Sparpaket auch Polizei- und Justizbehörden nicht ausgenommen hat, werden bei diesem Diskurs entscheidende Fragen – bewusst oder unbewusst – ausgeblendet. Wie konnte es überhaupt dazu kommen, dass diese jungen Männer einen kriminellen Weg einschlagen? Wie lassen sie sich wieder zu einem rechtschaffenen Weg zurückführen, und wie lassen sich andere Jugendliche der gleichen Herkunftsländer und Milieus davon überzeugen, beim Verbleib in Rechtschaffenheit heutzutage eine Zukunft zu besitzen?

Ein diffamierender Diskurs, der Nordafrikanern und darüber hinaus jungen Muslimen und Arabern insgesamt von vorn herein eine Neigung zu Kriminalität unterstellt, blendet nicht nur die Tatsache aus, dass die Majorität von dort stammender Immigranten sich gesetzestreu verhält, sondern auch dass aus Nordafrika bereits seit der Gastarbeitergeneration beständig junge Menschen nach Deutschland immigriert sind, Jahrzehnte lang unter ihnen jedoch keine höheren Kriminalitätsraten sich feststellen ließen als unter alteingesessenen Deutschen oder Immigranten anderer Herkunftsregionen. Jene jungen Maghrebiner, die gegenwärtig mit Diebstahl oder sexueller Belästigung von Frauen auffallen, gehören zu einem Personenkreis, der sich gesellschaftlich ausgeschlossen fühlt und in der Legalität keine Perspektive erkennt.

Die Unterstellung, jene jungen Männer zögen nach Europa, um dort kriminell aktiv zu werden, lässt außer Acht, dass ein Großteil von ihnen bereits vor der Immigration in ihren Herkunftsländern keinen geradlinigen Weg mehr gefolgt ist. Hierin liegt wiederum eine Ursache, weshalb diese Staaten kaum zur Rücknahme jener im wesentlichen illegal im Schengen-Europa sich aufhaltenden Jugendlichen bereit sind. Die Jugendlichen kommen sich als "Staatenlose" behandelt vor, für die weder Europa noch die Maghrebstaaten sich verantwortlich zeigen. Vor diesem Hintergrund müssen sie nicht nur als Täter, sondern zugleich als Opfer betrachtet werden, denen weder in ihrer angestammten Heimat noch auf der vermeintlich wohlhabenden Nordseite des Mittelmeers die Bedingungen für ein menschenwürdiges Erwachsenenleben geboten werden.

Die Verantwortung für diese frustrierende Erfahrung einer gesamten Generation tragen sowohl die Eliten in Nordafrika als auch in Europa. Die Ursache sollte keineswegs in Minderausstattung der Sicherheitsorgane gesucht werden. Schließlich haben seit dem 11.9.2001 sämtliche Maghrebstaaten ihren Sicherheitsapparat beständig ausgebaut und auch viele westliche Staaten den Eindruck erweckt, ihre Gesellschaften seien stärker durch islamistische Selbstmordattentäter bedroht als durch Jugendarbeitslosigkeit und niedrige PISA-Werte.

Mit der erneuten Fokussierung auf die Sicherheitsdebatte wird den jugendlichen Einwanderern indirekt signalisiert, nicht zur Gesellschaft hinzu zu gehören, deren Fortschritt am besten in ihrer Nichtexistenz, zumindest aber dauerhaften Inhaftierung gesichert sei. Weiterhin wird sich der Erkenntnis verweigert, dass es sich um ins Erwachsenenalter hineingelangende Menschen handelt, die ein Anspruch darauf haben, an den Errungenschaften der Moderne zu partizipieren. Ihre Motivation, nach Europa zu ziehen, wird gerade erst dadurch geweckt, dass ihnen in ihren Herkunftsländern Ressourcen versagt werden, die Gleichaltrige in Europa für sich als selbstverständlich erachten.

Die Erfahrung, angesichts eines fehlenden sicheren Aufenthaltsstatus auch im europäischen Wohlfahrtsstaat von einer ihren Fähigkeiten entsprechenden Ausbildung und Berufswahl ausgeschlossen zu sein, erweckt das Begehren, sich die prinzipiell berechtigten Bedürfnisse auf illegalem Wege zu befriedigen. Dies beinhaltet sowohl materielle Bedürfnisse, die mancher sich mittels Diebstahl besorgt, als auch emotional sexuelle Bedürfnisse, für die gelegentlich wehrlose Frauen ausgesucht werden.

Zwar kann auch eine freiheitliche und tolerante Gesellschaft derartiges Verhalten nicht dulden. Damit Europa seines liberalen Eigenanspruchs gerecht werden kann, besitzt es allerdings auch die Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass sich Neueingewanderte ebenso wie Alteingesessene auf legalem Wege frei entfalten können. Die Verhinderung eines in die Illegalität hineinführenden Weges bei Jugendlichen zieht somit die Gesellschaften südlich und nördlich des Mittelmeeres gleichermaßen zur Verantwortung. In Nordafrika gilt es, anstatt die Sicherheitsapparate mit großem Aufwand weiter aufzustocken, die vorhandenen Ressourcen einzusetzen, der heranwachsenden Generation Perspektiven zu bieten. Auf diese Weise lässt sich dem illusionären Traum, nördlich des Mittelmeers das "Paradies" vorzufinden, entgegenwirken.

Europa sollte zum einen erkennbare Reformanstrengungen seiner südlichen Nachbarn unterstützen. Zum anderen gilt es den Maghrebinern legale Immigrationsmöglichkeiten zu eröffnen, die mit der ungehinderten Partizipation an den Angeboten des Arbeits- und Ausbildungsmarktes verbunden sind. Die illegale Einwanderung lässt sich auf diese Weise ebenso verringern, wie die Fähigkeiten der Eingewanderten in vollem Umfang ausgeschöpft werden.

Außerdem sollte sich der europäische Rechtsstaat auch bei Immigranten an das Prinzip der "Resozialisierung" erinnern, indem bereits straffällig gewordenen Jugendlichen in den Haftanstalten die Möglichkeit geboten wird, versäumte Abschlüsse nachzuholen und nach Haftentlassung, unterstützt durch Sozialpädagogen doch noch einen erfolgreichen Lebensweg einschlagen zu können. Die im internationalen Vergleich niedrigen Raten an Wiederholungstätern in Deutschland sind nicht zuletzt darauf zurückzuführen.

Mit der Beschränkung der Debatte auf den Schutz der Mehrheitsgesellschaft vor generell als "kriminell" stigmatisierten nordafrikanischen Einwanderern, bekämpft man hingegen nur Resultate, belässt es aber bei ihren Ursachen. Das gesellschaftliche Ausgeschlossenheitsgefühl der betreffenden Personengruppe wird sogar noch verstärkt und verleitet auch bislang nicht auffällig gewordene Jugendliche zu Straftaten, die aus Exklusionsgefühl und Oppositionsmentalität heraus erwachsen.

Nur indem sich europäische und nordafrikanische Eliten gemeinsam ihrer Verantwortung gerecht werden und in der Diskussion miteinander nach Wegen suchen, die gegenwärtig an den Rand gedrängten Jugendlichen zu leistungsbewussten Bürgern zu erziehen, lassen sich auch die berechtigten Sicherheitsansprüche der europäischen Mehrheitsgesellschaft dauerhaft gewährleisten.

Prof. Mohammed Khallouk ist Politologe und Islamwissenschaftler.



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