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Donnerstag, 23.01.2003

Tierschutz wird im Islam groß geschrieben - Hintergründe, die in der heutigen Debatte zu kurz kommen

Für den Muslim ist nicht nur das Leiden der Tiere, sondern auch ihre geschöpfliche Würde von Bedeutung - Offener Brief an die Tierschützer

Angesichts der durch den BSE-Skandal offenkundig gewordenen Krise der industriellen Massentierhaltung und -schlachtung stellt sich ohnehin die Frage, ob der Westen denn überhaupt legitimiert ist, der islamischen Welt in Sachen Tierliebe Mores zu lehren. Es gibt keinen Beweis dafür, daß das im Westen seit einem guten Jahrhundert üblich gewordene industrielle Schlachten mit vorheriger Betäubung den Tieren weniger Qualen zufügt als das handwerkliche und rituelle Schächten, wie es seit alters her im Orient angewendet wird. Im übrigen stehen die Juden und Muslime mit ihren Gebräuchen keineswegs allein. Auch in Japan und China werden die Schlachttiere immer noch durchweg stehend, ohne Betäubung und durch den Halsschnitt getötet, weil auch diese Kulturen Wert auf vollkommen ausgeblutetes Fleisch legen.
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Man sieht also, hier kommt einiges zusammen. Eine offene Debatte ist notwendig, auf allen Ebenen, nicht nur in geschlossenen Zirkeln von Fachleuten und Rechtsexperten. Nach Sure fünf, Vers vier des Korans ist den Muslimen der Verzehr von "Verendetem, Blut, Schweinefleisch und allem, worüber ein anderer als der Name Allahs angerufen wurde", verboten.. Sie bedeutet zunächst, daß nur solches Fleisch halal, erlaubt ist, das von einem Muslim geschlachtet wurde, weil ansonsten die Erfüllung der zuletzt genannten Voraussetzung kaum zu gewährleisten ist. Um die ersten beiden Bedingungen zu erfüllen, wird in der islamischen Schlachtpraxis beim noch lebenden Tier die Halsschlagader durchtrennt, damit das Tier danach rasch und vollständig ausblutet. Um das gänzliche Ausbluten sicherzustellen, wird in der Regel eine vorherige Betäubung des Tieres als unzulässig angesehen. Dieses Schlachtverfahren wird seit dem Mittelalter als Schächten bezeichnet, abgeleitet von dem hebräischen Begriff "schachat". In Deutschland ist jedoch seit mehr als hundert Jahren das betäubungslose Schlachten von Wirbeltieren verboten.
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Als gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts im Deutschen Reich ähnlich wie in den Vereinigten Staaten, England und Frankreich die Betäubung der Schlachttiere vor dem Schlachten angeordnet wurde, erließen die Justizbehörden zur gleichen Zeit Ausnahmeregelungen für das den jüdischen Vorschriften entsprechende Schächten. Durch eine Verordnung vom 2. Juni 1917 wurde schließlich auf Antrag der jüdischen Seite verfügt, daß die rituelle Schlachtung nur von eigens bestellten und dafür ausgebildeten Metzgern durchgeführt werden durfte.
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Nach der Machtübernahme der Nazis wurde das Schächtverbot auf alle übrigen Länder übertragen. Den Abschluß dieser Entwicklung bildete das Reichsgesetz vom 21. April 1933, das ein ausnahmsloses Verbot des betäubungslosen Schlachtens für das ganze Deutsche Reich festschrieb. Damit wurde aus Sicht der Nazis zweierlei erreicht: Zum einen konnten die Juden im Gegensatz zu den tierliebenden Ariern als grausame und blutrünstige Tierquäler hingestellt werden. Zum anderen bildete das Schächtungsverbot den Anfang einer Reihe von Verordnungen, durch die den Juden die wirtschaftliche Existenzgrundlage entzogen werden sollte.
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Tatsächlich mußten bald nach dem Erlaß zahlreiche jüdische Metzgereien schließen. Zu Recht hat der Bundesgerichtshof schon 1960 festgestellt, daß das Schächtverbot als nationalsozialistische Gewaltmaßnahme zu bewerten ist, und hat damit die Entschädigungsansprüche der betroffenen Metzger als voll gerechtfertigt beurteilt. Gewiß ist die heutige Situation der in der Bundesrepublik lebenden drei Millionen Muslime nicht mit der bedrängten Lage der Juden in Deutschland nach 1933 zu vergleichen. Verengt man jedoch den Blick auf das Problem des Schächtens, so drängen sich - politisch sicher ungewollte - Parallelen auf.
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Auffällig ist auch heute noch eine offensichtliche Verquickung zwischen Tierschutz und Rechtsradikalismus bei Schächtungsgegnern. Einer der Wortführer in dieser Szene ist der Anwalt Klaus Sojka, Bundesvorstandsmitglied der DVU und Verfasser zahlreicher neonazistischer Postillen. Nichtsdestotrotz wird er immer wieder als "Tierschutzexperte" zitiert. Er hat in der Vergangenheit wiederholt jüdische Einrichtungen wegen Verstoßes gegen das Schächtungsverbot angezeigt und dem Zentralrat der Juden in Deutschland "Tierfolter" vorgeworfen.

Doch mit dem Tierschutzargument wird nicht nur von rechtsradikaler Seite operiert. Auch linke und grüne Gutmenschen sind mitunter ahnungslos genug, um sich dieses Arguments zu bedienen. Ein Blick in die Geschichte sollte sie jedoch eines Besseren belehren. Die Vorschriften zur Betäubung der Tiere wurden - man kann es bei Upton Sinclair in seinen Dokumentarromanen aus den Schlachthäusern von Chikago nachlesen - keineswegs erlassen, um den Tieren Leid zu ersparen. Es ging darum, den Schlachtern die Arbeit zu erleichtern und dem industriellen Schlachten am Fließband den Weg zu bereiten; dazu war es erforderlich, daß die Tiere erst zu Boden gingen, bevor die Schlachtmesser angesetzt wurden.

Genau darin liegt aus islamischer Sicht das Problem. Für muslimische Schlächter ist nicht nur das Leiden der Tiere, sondern auch ihre geschöpfliche Würde von Bedeutung. Ihre Ehre verbietet es ihnen, auf ein bereits leblos am Boden liegendes Tier einzustechen. Sie sind bestrebt, dem Tier, solange es noch steht, den tödlichen Halsschnitt zuzufügen. Sie haben stets den Vorwurf zurückgewiesen, der Verzicht auf die Betäubung würde den Schlachttieren unnötige Schmerzen zufügen. Sie legen Wert auf die jahrtausendalte Erfahrung, daß die Durchtrennung der Halsschlagader, sofern sie rasch und professionell "wie beim Biß des Tigers" erfolgt, augenblicklich die Durchblutung des Gehirns und damit auch das Schmerzempfinden unterbricht. Tiere, die auf diese Weise geschächtet werden, stoßen in aller Regel keine Todesschreie aus und fallen nach ungefähr dreißig Sekunden reglos zu Boden. Der Todeskampf eines elektrisch betäubten und danach geschlachteten Tieres dauert dagegen meistens volle zwei Minuten. Nach wie vor sind die Schlachthöfe der großen Städte trotz aller Fortschritte in der Technik der elektronischen Betäubung und trotz musikalischer Berieselung der von Todesangst gestreßten Tiere erfüllt von den Schmerzensschreien der Rinder und Schweine. (Peter Schütt; erstmals veröffentlich in der Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 31.01.2001)