Artikel Freitag, 05.01.2018 |  Drucken

"Der Jesus Dschihad"

Rezension Dave Andrews: Der gewaltfreie Weg aus dem Konflikt zwischen Islam und Christentum - von Mohamed Laabdallaoui

Der Titel ist das Programm des Buches von Dave Andrews, der es bewusst nicht als Experte oder Spezialist schreibt – beides sei er ausdrücklich nicht. Dennoch hat Andrews umfangreiche Quellenstudien betrieben und versieht sein Werk mit Hunderten von Fußnoten.  

Meine Gegenlektüre war keine Überarbeitung, auch wenn ich sie gerne durchgeführt hätte. Dafür bin eben auch ich nicht Experte genug. Vor allem zu den Abschnitten zum Osmanischen Reich und zu den muslimischen Eroberungen auf dem indischen Subkontinent konnte ich dem Herausgeber der deutschen Übersetzung nichts liefern, schlicht weil meine Kenntnisse hierzu unzureichend sind. Bei der Lektüre des fertigen Werks sehe ich auch, dass meine Kommentare kaum Eingang in das Werk gefunden haben.  

Das Buch von Andrews ist insgesamt ein lohnendes Buch, keine Frage. Es ist getragen von dem Engagement des Autors, das von der ersten bis zur letzten Seite zu spüren ist. Es ist vor allem auch mit gewinnender Empathie geschrieben.  

Nach der Definition des zentralen Begriffs Dschihad in Anlehnung an die Definition, die man üblicherweise bei den Muslimen liest, geht er auf 100 Seiten mit der Kriegs- und Eroberungsgeschichte des Christentums und des Islam hart ins Gericht. Die Christen dürften mit den meisten hier diskutierten Inhalten sehr vertraut sein: Hexenverbrennung, Inquisition, Kreuzzüge, brutale Zwangschristianisierung der amerikanischen Ureinwohner. Andrews belässt es in seinem Überblick nicht bei der christlichen Zeit vor der Aufklärung, sondern fährt fort bis zum fürchterlichen Erbe der Zeit nach der Aufklärung bis zum heutigen Tage: Kolonialismus, Nationalsozialismus, Irak 2003.  

Für muslimische Leser, zumal in Deutschland groß gewordene, dürfte die Darstellung ihrer Kriegsgeschichte hingegen völlig neu sein, wird ihre Geschichte in Schule und Gesellschaft doch so gut wie überhaupt nicht oder nur in apologetischer Weise rezipiert. Der kurze Überblick über die Feldzüge des Propheten Muhammad, Gottes Segen und Frieden über ihn, und die die Eroberungszüge der ersten 100 Jahre, arabisch futuhaat, sind noch relativ bekannt. Aber bei den osmanischen Eroberungen, den Kriegen zwischen dem Safawidischen Reich und dem Osmanischen Reich, den Armenienkriegen und den Kriegen auf dem Indischen Subkontinent dürfte dies für die meisten muslimischen Leser die erste Konfrontation mit diesem Teil der eigenen Geschichte überhaupt sein. Ich hatte mich hiermit irgendwann mal beschäftigt, muss aber zugeben, dass meine Kenntnisse sehr oberflächlich geblieben sind, weshalb ich dem Herausgeber hierzu auch keine Kommentierungen liefern konnte.  

Geärgert hat mich in diesem Abschnitt eines: Andrews führt die Erzählung von Ibn Ishaq zu dem Massaker an den Juden von Banu Quraida fast kritiklos an. Die Anmerkung, dass an der Glaubwürdigkeit dieser Geschichte durchaus Zweifel angebracht sind, erwähnt er lediglich in einer Fußnote.  

Andrews erklärt, dem Beispiel Jesu gefolgt zu sein und zuerst den eigenen Balken entfernt zu haben, bevor er sich mit dem Splitter im Auge seiner Nachbarn befasst habe (S. 63). Dabei konzentriert sich seine Arbeit auf die schrecklichen Seiten der beiden Historien. Nach einer jeweils kurzen Klarstellung, dass er die großen Verdienste sehe, die das Christentum und der Islam der Welt gebracht haben (S. 35 f. und S. 61 ff.), versucht er holzschnittartig im Schnelldurchgang die hässliche  Seite der jeweiligen Geschichte aufzuschreiben. Diesen 1. Teil nennt er „Der Jihad des Daddschal (Antichrist)“.  

Dieses Kapitel vermag Muslime zu verstören, vielleicht auch Christen. Es ist in meinen Augen jedoch notwendig für die Gläubigen, sich mit diesen Aspekten ihrer Religionsgeschichte auseinander zu setzen und sich anschließend ihres Glaubens zu vergewissern, unabhängig davon, ob sie Andrews in allen Details zustimmen oder nicht. Andrews jedenfalls fährt im 2. Teil damit fort, den wahren Dschihad auszuarbeiten, den er den „Jesus-Jihad“ nennt, im englischen Original „The Jihad of Jesus“ oder auch „The Jihad of Isa“.  

Im englischen Original zeigt der Untertitel eine andere Zielrichtung dieses Jihad auf als in der deutschen Übersetzung: „The Sacred Nonviolent Struggle for Justice“. Für mich ist nicht verständlich, warum der Herausgeber der Übersetzung daraus „Der gewaltfreie Weg aus dem Konflikt zwischen Islam und Christentum“ gemacht hat. Auf den ersten Blick wird das Werk damit in meinen Augen erheblich abgewertet. Statt der Aufforderung des Originals an gläubige Christen und Muslime, sich gewaltfrei für eine gerechtere Welt einzusetzen und hierbei ihren Glauben als Inspiration und Verantwortung zu begreifen, lässt der Untertitel der Übersetzung eine Aufforderung zur Fortsetzung der Endlosschleife des ermüdenden Dialogs vermuten – und den interessierten Leser vermutlich Abstand nehmen.  

Dabei ist der zweite Teil des Buches überaus wertvoll und inspirierend. Da lässt Andrews Christen und Muslime zu den strengen Anforderungen ihrer Theologien an die Zulässigkeit von Gewalt zu Wort und zu dem Ergebnis kommen: „Wenn man diese Kriterien zugrunde legt, ist keiner unserer gegenwärtigen Kriege ein „gerechter Krieg“. Es sind einfach nur Kriege.“ (S. 161) Die herausgearbeitete Theologie des gewaltfreien Kampfes nennt er die „Bismillah-Theologie“. (S. 148 ff.) Nach der Ausarbeitung von „Jesus als Vorbild für den gewaltfreien Kampf“ (Kapitel 5), porträtiert Andrews im 6. Kapitel im Schnelldurchgang jeweils zwei muslimische und christliche Kämpfer, „die entschieden, aber sanft zugleich“ für eine gerechtere, friedlichere Welt gekämpft haben:

- Franz von Assisi, der sich im frühen 13. Jahrhundert daran machte, die „verfallene Kirche“ zu reformieren, statt gegen pompösen Reichtum zu wettern, versuchte „die Menschen von ihrer Liebe zu Macht und Reichtum wegzulocken, sich in die wunderschöne „Dame Armut“ zu verlieben.“ Es ging ihm nicht darum, die Armut zu verherrlichen, sondern vielmehr darum den Reichtum mit den Armen zu teilen. Franz von Assisi lebte in der frühen Zeit der der Kreuzzüge, lehnte es aber anders als viele Christen seiner Zeit ab, die Waffe zu tragen. Stattdessen reiste er zu Kreuzrittern im Kampf und setzte sich aktiv für Frieden ein.   -        Abdul Ghaffar Khan (geb. 1890), der für die Befreiung seines Volkes aus der britischen Tyrannei kämpfte: „Wir dienen und wir lieben unser Volk und unsere Sache. Unsere Sehnsucht ist die Freiheit, unser Leben ist der Preis, den wir zahlen.“ Khan gründete die Bewegung der „Soldaten Gottes“, deren wichtigstes Prinzip die absolute Gewaltlosigkeit war und der sich bald hunderttausende im Kampf gegen den britischen Kolonialismus anschlossen. Sie blieben ihrem Grundsatz der Gewaltlosigkeit treu auch als die Briten auf sie schossen.  

-Leymah Gbowee, geb. 1972, die sich mit muslimischen und christliche Frauen zusammentat, um für die Beendigung des zweiten liberianischen Bürgerkrieges zu kämpfen: „Wir sind es leid, dass unsere Kinder ermordet werden! Wir sind es leid, vergewaltigt zu werden! Frauen wacht auf – erhebt eure Stimme für den Frieden!“ Ihre gewaltfreie Bewegung machte Druck auf die Politik, den Bürgerkrieg zu beenden.  

-James Wuye und Muhammad Ashafa, die in den 1990er Jahren erbitterte Feinde waren und geschworen hatten, aneinander Rache zu nehmen für geliebte Menschen, die sie im Kampf verloren hatten. Einer Freitagspredigt, der Ashafa zugehört hatte, ist es zu verdanken, dass beide sich versöhnten und letztlich das Interfaith Mediation Center gründeten und für die Versöhnung von Muslimen und Christen und schließlich den Frieden ihrer Gemeinschaften kämpften.  

Andrews‘ Absicht ist es, in den Muslimen und den Christen das Potenzial ihres Glaubens für den gewaltfreien Kampf für Frieden und Gerechtigkeit zu mobilisieren. Gewaltlosigkeit ist dabei durchaus eine Tugend an sich. Er hält aber auch fest, dass „eine Tugend erst dann wirklich gut und wertvoll ist, wenn sie aller Wahrscheinlichkeit nach gut „funktioniert“, und das zum Wohle aller und über einen langen Zeitraum hinweg.“ (S. 243) Dass dies für die Gewaltlosigkeit auch so ist, belegt Andrews im Nachwort. Hier führt er ausführlich eine wissenschaftliche Untersuchung von 323 Beispielen von zivilem Widerstand an und zitiert das Ergebnis, „dass gewaltfreie Aktionen nicht nur in moralischer Hinsicht richtig, sondern … auch in politischer Hinsicht am effektivsten sind.“ (S. 244)  

Insgesamt ist das Werk von Andrews zur Lektüre zu empfehlen. Es ist engagiert und leicht leserlich geschrieben. Der Autor schreibt zwar, er sei kein Spezialist des Themas, hat sich allem Anschein nach aber akribisch und umfassend in die Materie eingearbeitet. Das Literaturverzeichnis geht über 13 Seiten, und man hat den Eindruck, dass er alle Quellen auch durchgearbeitet hat.

Entstanden ist ein Werk, das Christen und Muslime im ersten Teil durchaus verstören kann, das aber im zweiten Teil davon überzeugt, dass es heilen und ermutigen will.   Dennoch bleiben einige wichtige Kritikpunkte. Wenn Andrews im ersten Teil die fürchterlichsten Episoden der Zeit nach der Aufklärung wie den Nationalsozialismus und die gegenwärtigen sogenannten Antiterror-Kriege unter den christlichen „Heiligen Kriegen“ subsumiert, dann ist das nicht nur sachlich nicht korrekt. Eine solche Sichtweise lenkt von den wahren Ursachen der Gewalt ab und riskiert den „gläubigen“ Beitrag zur Friedensbewegung zu diskreditieren. Die heutige Situation der Kriege und der fürchterlichen Gemetzel ist nicht getrieben von Religionen. Wir haben es mit Rohstoffkriegen zu tun und mit Kriegen um geostrategische Eiflusssphären. Das Ausmaß der geführten Kriege ist erschreckend, die Rücksichtslosigkeit und Menschenverachtung, mit der sie geführt werden, unvorstellbar. Aber vor allem die sie begleitende Bigotterie ist unerträglich. Wir hören Beschwörungen der Menschenrechte, des Völkerrechts, der humanistischen Ideale aus dem Mund derselben, die auch zu Kriegen rufen, die das Völkerrecht missachten, die Humanismus und Menschenrechte in Wirklichkeit weit hinter sich gelassen haben. Der Zynismus ist unerträglich.  

Eine Friedensbewegung, die es ernst meint, muss heute genau hier ansetzen. Und hier können die Religionen einen großen Beitrag leisten. Hier müssen sie einen viel größeren Beitrag leisten als bisher. Religionen müssen ihren eigenen Beitrag zu Krieg und Gemetzel ehrlich benennen. Das macht der Autor unzweifelhaft. Aber beim Handlungsansatz setzt nicht an der richtigen Stelle an: Bei Rohstoffen und Geopolitik.   Die Religion ist nicht die Ursache oder treibende Kraft hinter den Kriegen. Das mag früher anders gewesen sein. Aber heute ist es die Gier und Herrschsucht, die sie antreiben. Der Fehler der Religionen ist, dass sie sich instrumentalisieren lassen, dass sie das schmutzige Geschäft ausführen. Im Einzelfall mag verblendeter Fanatismus bei den religiösen Feldherren dazu führen, das kleinere Übel des Pakts mit dem übermächtigen Imperialisten in Kauf zu nehmen in der festen Absicht, ihn zum Teufel zu jagen, sobald der Krieg gegen das größere Übel gewonnen wäre. Aber in aller Regel ist es doch so, dass die Religionsführer einfach nur zu dumm sind, das große Spiel zu durchschauen. Dass das System hat in den Religionen (bei den Muslimen zumal) muss besorgt machen. Und hier muss eine Friedensbewegung bei den Religionen ansetzen. Alles andere führt nicht zum Ziel.  

Zwei der ermutigenden Beispiele, die der Autor anführt, Abdul Ghaffar Khan und Leymah Gbowee, setzen genau hier an: Nicht der Glaube des Anderen ist unser Feind. Es sind die dahinter stehenden Machtstrukturen. Der Glaube gab Khan und Gbowee die Kraft, den Kampf durchzustehen. Und genau das ist der Beitrag, den der Glaube für den Frieden leisten kann, den nur er leisten kann.  

Einige Darstellungen zur Gewalt in der islamischen Geschichte halte ich für falsch, ich kann über diese Fehler aber hinwegsehen. Der Ort für ihre Diskussion sind die historischen Seminare. Eine Ausnahme ist aber, dass Andrews der offiziellen Darstellung zu den 9/11-Anschlägen ohne Abstriche folgt. Dies ist deshalb nicht akzeptabel, weil 9/11 heute als Begründung für den so genannten Anti-Terror-Krieg dient, einen umfassenden, globalen Krieg, der derart angelegt ist, dass er nicht enden kann. Das Trauma des 11. September wird dafür regelmäßig am Leben erhalten.

Ein ernstzunehmendes Friedensengagement kann an dieser Stelle nicht kritiklos der Version der Herrschenden und derer folgen, die die Kriege eröffnen. Da die heutigen Herrschenden in ihrer Bigotterie vorgeben, für Menschenrechte und für den Frieden Krieg zu führen, muss die Friedensbewegung und mit ihr die friedensbewegte Religion sie genau hier entlarven. Sie muss schreien: NICHT IN UNSEREM NAMEN! Wir lassen unseren Glauben nicht von euch instrumentalisieren!  

Mit dieser Kritiklosigkeit stößt Andrews einen großen Teil der heutigen Friedensbewegung vor den Kopf. Die heutige Friedensbewegung kämpft in erster Linie und vor allem gegen die Kriege der NATO und der USA, die offenen und die stillen, nicht minder grausamen Kriege. Mit dem Trauma 9/11 sollen wir alles rechtfertigen und jeden Krieg erlauben. Afghanistan mit seinen unerträglichen Taliban hatte mit 9/11 nichts zu tun, als es mit Krieg überzogen wurde. Und der unerträgliche Saddam Hussein hatte mit 9/11 ebenfalls nichts zu tun, obwohl die meisten amerikanischen Soldaten in der festen Überzeugung dort waren, ihn gerade für 9/11 zu bestrafen.

Wir wurden offen angelogen über Massenvernichtungswaffen, um unseren Widerstand gegen den Krieg zu brechen. Von Andrews wäre nicht zu erwarten gewesen, dass er den seriösen Versionen der „Truther“ folge; er kann durchaus anderer Meinung sein. Ich hätte aber definitiv erwartet, dass er klarstellte, dass die offizielle Version umstritten ist und wissenschaftlich angezweifelt wird. Ich hätte vor allem erwartet, dass er den Missbrauch der Opfer von 9/11 für Kriege und Millionen Tote und Kriegstraumatisierte nicht duldet. 

Dave Andrews: Der Jesus Dschihad Der gewaltfreie Weg aus dem Konflikt zwischen Islam und Christentum aus dem Englischen von Kai Sutrisno Scheunemann




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