Newsnational Donnerstag, 22.12.2005 |  Drucken

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Muslim-Parlament made in NRW? Urwahl würde „die innerislamischen Kämpfe und den Rambo-Kurs“ einiger Organisation beenden - Von Till-R. Stoldt

Ankara unzufrieden mit Situation in Deutschland

Wen der Verfassungsschutz beobachtet, den kann man nicht zum Sprecher der Muslime in NRW küren - überzeugend, nicht wahr? Damit ist die eine Hälfte der Moslemverbände in NRW bereits disqualifiziert. Ebensowenig kann man aber eine Organisation zum Islam-Vertreter ernennen, die Weisungen vom türkischen Staat erhält - ebenfalls überzeugend, nicht? Damit ist allerdings auch die andere Hälfte der Moslemverbände in NRW disqualifiziert.

In diesem Dilemma befinden sich die Landesregierungen seit Jahren: Das vorhandene Angebot mißfällt ihnen, aber Alternativen sind nicht in Sicht. Und so kommt es, daß über eine Million Muslime in NRW leben, aber niemand für sie spricht - obwohl Land und Kommunen einen Ansprechpartner dringend brauchen bei Fragen wie Religionsunterricht, Gefängnisseelsorge, Moscheebau oder theologischer Ausbildung.
Doch nun naht eine Lösung: Im türkischen Religionsministerium, in manchen Verbänden und in der Landesregierung wächst Sympathie für den Plan eines Moslem-Parlaments: Die Muslime sollten ihre Repräsentanten wählen, die Verbände dürften wie jede Gruppe kandidieren, und wer die Mehrheit erhält, gilt als Sprecher.
Eine solche Wahl würde Extremisten fernhalten von der Macht, weil die große Mehrheit der Muslime Extremen abgeneigt ist. Eine gewählte Repräsentanz wäre zudem organisatorisch und finanziell unabhängig von der Türkei. Und: Eine Urwahl würde die innerislamischen Kämpfe beenden.

Vor allem die vom türkischen Staat beeinflußte Organisation Türkisch Islamische Union der Anstalt für Religion (Ditib) pflegt Platzhirsch-Gehabe. Sie versucht sich als alleinigen Moslem-Repräsentanten zu empfehlen und als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt zu werden. Denn damit sind zahlreiche Privilegien verbunden: das Recht, Religionsunterricht anzubieten, Bildungsstätten zu gründen, Steuern einzunehmen oder in Rundfunkräten Platz zu nehmen. Aber dieser Versuch ist zum Scheitern verurteilt, weil Ditib auch desintegrierend wirkt: So propagiert die Organisation bislang, Geistliche für deutsche Moscheen sollten in der Türkei ausgebildet werden. Entsprechend importiert Ditib die Imame aus der Türkei - und die bleiben meist nur vier Jahre. Auch den islamischen Religionsunterricht wollen die Ditib-Leute nur ungern auf Deutsch stattfinden lassen. Außerdem erhalten sie Weisungen und sogar Gehalt vom türkischen Staat.
Immerhin: Weil ihre theologische Linie vom türkischen Staat geprägt wird, ist sie derzeit liberal.

Genau diese Linie vermißt mancher Beobachter bei Ditib-Konkurrenten wie dem Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD), dem Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland (IR) und der Vereinigung islamischer Kulturzentren (VIKZ).
Denn: Einige Mitglieder im Zentralrat sollen laut NRW-Verfassungsschutz den islamistischen Moslembrüdern nahestehen. Und Milli Görüs, die größte Gruppe im Islamrat, wird vom Verfassungsschutz beobachtet.
Allerdings fordern immer mehr Experten ein Ende dieser Beobachtung. Für Islamrat und Zentralrat spricht, daß sie einen deutschen Islam propagieren - mit deutschen Islam-Lehrstühlen, Religionsunterricht auf Deutsch und einer Moslem-Repräsentanz, die von keinem Staat beeinflußt wird. Zudem wollen diese Verbände eine von der Mehrheit gewählte Moslemvertretung. Derzeit arbeiten sie an einem Forum für solch eine Wahl.

Diese Verbände versucht Ditib jedoch auszubooten. So drängt das NRW-Schulministerium seit Jahren alle Moslemgruppen an einen runden Tisch, um einen Ansprechpartner für die Gestaltung des Religionsunterrichts zu finden. Tatsächlich erschienen alle Gruppen - außer Ditib. Die Organisation verfährt nach dem Motto "Wir - oder die".

Das zeigte sich auch, als der Kölner Rat unlängst mit sämtlichen Moslemorganisationen plante, eine Zentralmoschee als Projekt aller Kölner zu bauen. Plötzlich begann Ditib den Bau eines eigenen Gotteshauses. Prächtiger. Größer. Und vor allem ohne muslimische Konkurrenz im Boot. Die städtischen Pläne wurden daraufhin eingestampft. Der Rat war zufrieden, Ditib auch - und die Idee einer deutschen Moschee war tot.

Auch als in Münster der bundesweit erste Lehrstuhl für die Ausbildung islamischer Religionslehrer besetzt wurde, waren es die vermeintlich ultrakonservativen Verbände, die den liberalen deutschen Konvertiten Muhammad Kalisch unterstützten, während Ditib darauf drang, Islam-Lehrer in der Türkei auszubilden.

Dieses Brachial-Engagement geht zurück auf die türkische Regierung. Die treibt Ditib seit langem an, aktiver aufzutreten, Einfluß zu sichern und das Image zu verbessern - auch um die Chance eines EU-Beitritts zu erhöhen.

Offenbar ist man mit Ditib aber unzufrieden in Ankara. Jedenfalls mehren sich von dort neue Signale: Ali Bardakoglu, der Präsident der türkischen Religionsbehörde, flirtet intern mit dem Gedanken einer demokratischen Wahl von Islam-Repräsentanten in Bund und Ländern - obwohl dabei eine andere Gruppe als Ditib an die Macht kommen könnte. Der türkische Chef-Theologe Bardakoglu empfing kürzlich gar eine Abordnung des deutschen Zentralrats in Ankara und äußerte den Ditib-Rivalen gegenüber Sympathie für die Wahl-Idee.
Dahinter steht wohl die in der Türkei wachsende Ernüchterung über die Erfolgschancen von Ditib. Denn kein deutsches Bundesland kann deren Rambo-Kurs honorieren und sie zum alleinigen Ansprechpartner erklären - das dämmert allmählich auch den Türken.
Zumal immer mehr deutsche Integrationspolitiker daran erinnern, daß keiner der Moslemverbände von einer Mehrheit getragen wird - auch nicht Ditib. Während Islamrat und Zentralrat den meisten Experten zufolge zwischen 55 000 und 120 000 Mitglieder zusammenbringen, zählt Ditib etwa 130 000 Mitglieder. Die Zahlen schwanken, je nach dem, ob sie vom eher Ditib-freundlichen "Zentrum für Türkeistudien" in Essen stammen oder vom "Islam-Archiv" in Soest, das dem Islamrat zuneigt. Aber: Bestenfalls sind zehn Prozent der hiesigen Muslime in den Verbänden organisiert.

Die Konsequenz daraus formuliert nun ein anderer Vertrauter des türkischen Ministerpräsidenten Tayyip Erdogan: Fevzi Cebe, Präsident der "Union europäisch-türkischer Demokraten" (UETD) mit Sitz in Köln. Die UETD hat Erdogan mit der Lobbyarbeit für die Auslandstürken betraut. Und Fevzi Cebe wirbt offen dafür, die Muslime sollten ihre Vertreter demokratisch wählen - in Bund und Ländern, alle vier Jahre neu. "Dadurch", so Cebe, "würde auch das demokratische Selbstbewußtsein der Muslime gestärkt." Und NRW sei der ideale Ort, um die Idee umzusetzen. Schließlich lebt in NRW jeder dritte deutsche Muslim. Insofern hätte dieser Schritt Signalwirkung für die ganze Republik.
Und siehe da: Auch Integrationsminister Armin Laschet bekundet nun sein Wohlwollen: Sein "erstes Ziel" sei es, "in dieser Wahlperiode einen muslimischen Ansprechpartner zu finden, mit dem man vor allem islamischen Religionsunterricht einführen kann". Sollten die Verbände sich nicht bald auf eine gemeinsame Repräsentanz einigen, so Laschet, wäre die Wahl zum Moslem-Parlament "ein sympathischer Weg".

/Till-R. Stoldt Politik-Redakteur der "Wams" und "Welt"
Erstveröffentlichung am 18.12.05 mit freundlicher Genehmigung der „WELT am Sonntag“





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